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Schwindsucht in der Antarktis

Klimaforschung. – In der Antarktis zerbricht nicht nur das Schelfeis sondern auch die Inlandsgletscher nehmen rapide ab. Das hat ein britisch-amerikanisches Forscherteam in der aktuellen "Science" dokumentiert.

Von Volker Mrasek | 22.04.2005
    Man könnte die Antarktische Halbinsel als das aktuelle Krisengebiet des Südkontinentes bezeichnen. Es ist die schmale Landzunge, die sich wie ein gekrümmter Finger Richtung Südamerika streckt: eine Bergkette, rund 1300 Kilometer lang. Hier kommt die Antarktis den anderen Kontinenten am nächsten, und hier verändert sie sich zur Zeit am stärksten ...

    "Die Antarktische Halbinsel erlebt derzeit eine beispiellose Erwärmung. In den letzten 50 Jahren ist die mittlere Lufttemperatur dort um 2,5 Grad Celsius gestiegen - so schnell wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und die Gletscher ziehen sich spürbar zurück."

    Alan Rodger ist Leiter der Forschungsprogramme beim Britischen Antarktisdienst. Dessen Experten haben die fiebernde Halbinsel jetzt regelrecht seziert, gemeinsam mit Kollegen vom Geologischen Dienst der USA. Die Forscher analysierten alle verfügbaren Flugzeug- und Satellitenbilder der letzten 60 Jahre aus der Region. Und sie verfolgten, wie sich jeder einzelne Gletscher am Küstenrand der Halbinsel in dieser Zeit entwickelt hat. Am Ende kamen die Forscher auf über 240 Eisströme. Das Ergebnis ihrer Inventur: Fast 90 Prozent der Gletscher sind in den letzten fünf Jahrzehnten zurückgegangen; nur etwas mehr als ein Zehntel hat Masse dazugewonnen. Für Atmosphärenphysiker Rodger ist klar, dass die Klimaerwärmung vor Ort entscheidend zu den Eisverlusten beiträgt:

    "Im Sommer kann die Lufttemperatur vor Ort über null Grad Celsius steigen. Das Gletscher-Eis schmilzt dann. Das geschieht über einem immer größeren Gebiet, weil sich die Halbinsel so stark erwärmt hat. In der Folge sind viele Gletscher stark zurückgegangen und vorgelagerte Schelfeis-Felder komplett auseinandergebrochen."

    Tatsächlich kann die Antarktische Halbinsel ihren Rand kaum noch halten. In letzter Zeit sind zehn große Eis-Platten an ihrer Westküste abgerissen und haben sich auf- und davongemacht. Das hat zunächst noch nichts unmittelbar Bedrohliches. Denn das Eis, das auf diese Weise verloren geht, ist schwimmendes Schelfeis. Es liegt nicht dem Land auf, sondern dem Ozean. Wenn es später schmilzt, steigt der Meeresspiegel deshalb nicht an. Das ist wie mit dem berühmten Stück Eis im Whisky-Becher: Löst es sich auf, wird das Glas dadurch nicht voller. Dennoch verfolgen die Wissenschaftler mit Sorge, wie der Schelfeis-Gürtel der Halbinsel allmählich zerbröselt. Der Direktor des Britischen Antarktisdienstes, Chris Rapley:

    "Wenn der Schelfrand abbricht, rutscht das dahinterliegende Eis nach. Das ist eigentlich ganz normal. Nur: Dort, wo in jüngster Zeit große Schelfeis-Platten verlorengingen, sehen wir, dass sich dieser Prozess stark beschleunigt. Er läuft bis zu 6mal schneller ab als sonst. Es gibt einen Gletscher, dessen Zunge sich innerhalb von sechs Monaten um 40 Meter abgesenkt hat. Das zeigen die Satellitenmessungen. Dort hat es einen dramatischen Verlust von Eis gegeben, das im Meer gelandet ist."

    Auf diese Weise löst sich auch Festland-Eis in Wasser auf. Also Eis, das vorher nicht auf dem Ozean schwamm. Und das deshalb, wenn es später schmilzt, den Meeresspiegel klettern lässt. Die Antarktis ein gut isolierter Tiefkühlschrank, den die Klimaerwärmung schon nicht so schnell zum Auftauen bringt - dieses Bild vom Süd-Kontinent hält Alan Rodger inzwischen für überholt:

    "Wir müssen davon ausgehen, dass Eisverluste in der Antarktis schon jetzt zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Nach unserer Schätzung liegt dieser Anteil bereits bei einem Sechstel."

    Die Lage könnte sich weiter zuspitzen. Denn in den letzten Jahren hat sich der Eisschwund auf der Antarktischen Halbinsel noch einmal beschleunigt. Die Gletscher schmelzen jetzt sogar so schnell, da reicht die Klimaerwärmung als alleinige Erklärung nicht mehr aus. Es muss noch andere treibende Kräfte hinter der massiven Eisschmelze geben. Auf die Forscher wartet also weitere Arbeit ...