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Shakespeares "King Lear" in London
Anklage gegen den Folterstaat

Sam Mendes Inszenierung von Shakespeares "King Lear" ist ein scharfer Angriff gegen die Wiedereinführung der Folter in den USA und anderen Staaten. Das Londoner Ensemble spielt mit beeindruckender Qualität.

Von Ulrich Fischer | 25.01.2014
    Die Aufführung beginnt, ehe das Stück anfängt. Während das Publikum noch nach und nach die Plätze im Olivier einnimmt, im Großen Haus des Royal National Theatres in London, wird eine Sonne auf die Rückwand der Bühne projiziert. Unmerklich langsam nähert sich ein tiefschwarzer Schatten, bis er schließlich die Sonne ganz verdeckt. Sam Mendes hat ein treffendes Symbol für "King Lear" gewählt: die Sonnenfinsternis.
    Dann verlöschen die Lichter und auf die erste szenische Botschaft folgt rasch die zweite. Der König wird angekündigt – 28 schwarz gekleidete Polizisten einer bewaffneten Sondereinheit, deren Uniformen an Grenzschützer auf britischen Flughäfen erinnern, treten auf und sichern den Thronsaal. Sie sind mit Schnellfeuergewehren bewaffnet. Dann tritt der König ein und begibt sich ans Mikrofon, um seine Absicht zu verkünden, das Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen:
    Die Kostüme und das Mikrofon sind deutliche Zeichen für die Aktualisierung von Shakespeares Tragödie. Der König ist ein Tyrann – und ein schlechter Vater. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass ihn seine Untertanen und seine Töchter nicht lieben. Es dürfte nie ratsam gewesen sein, ihm zu widersprechen – wohl deshalb haben ihm die meisten nach dem Mund geredet.
    Eine Schlüsselszene wird die Blendung Gloucesters. Den alten Earl schleifen seine Feinde in eine Art Waschküche, fesseln und unterziehen ihn, nachdem sie ihm eine Kapuze über den Kopf gezogen haben, dem Waterboarding – die Szene ist ein scharfer Angriff auf die Wiedereinführung der Folter in unserer Zeit. Es ist nicht ganz klar, ob Mendes britische oder amerikanische Geheimdienstleute attackiert – vermutlich beide. Die Botschaft ist unmissverständlich – dieser "König Lear" ist ein Stück gegen Folter, gegen Tyrannei, Sam Mendes ein politisch engagierter Theatermann.
    Erstklassiges Ensemble
    Simon Russell Beale, ein etwas untersetzter Akteur mit weißem Bart und militärisch kurz geschnittenem Haar, spielt King Lear. Für die Rolle gilt das Paradox: Wer alt genug ist, Lear darzustellen, kann ihn nicht spielen. Soll sagen: Wer so alt ist, dass er überzeugend den greisen König verkörpern kann, hat nicht mehr die Kraft, die Riesenrolle zu meistern. Russell Beale schafft es. Bis zum Ende sind ihm keine Schwächen anzumerken. Überzeugend ist vor allem seine Körpersprache. Anfangs ist der König noch viril, aber nach und nach, wenn ihn die Kräfte verlassen, krümmt er sich immer mehr, verliert alle Straffheit. Die Enttäuschungen, der Mangel an Respekt beugen ihn im Wortsinn. Wenn am Ende dem König das Herz bricht, scheint der Tod eine Art logisches Ende – und eine Erlösung.
    Das gesamte Ensemble spielt brillant, es gibt keine Ausfälle. Die Artikulation ist beispielhaft, da können sich deutsche Schauspieler bei den britischen Kollegen eine Scheibe abschneiden. Aber sie überbetonen die Musikalität der Verse, immer wieder kommt der traditionsreiche, aber verschlissene Staatstheaterton zum Tragen, hohes Pathos, das leicht hohl wird. Auch Russell Beale ist nicht frei davon - beim Auftritt Lears auf der sturmumtosten Heide hört man die alte, problematisch gewordene Schule der Royal Shakespeare Company.
    Vor einem Monat hatte in Wien im Burgtheater "König Lear" Premiere, Regie führte Peter Stein. Er hielt, preußisch nüchtern, seine Inszenierung abseits allen Pathos, abseits allzu greller Effekte – das tut der Tragödie gut. Aber London hat den Platzvorteil, es wird auf Englisch gespielt. Und die Übersetzung mag noch so inspiriert sein, das Original wird sie (fast) immer übertreffen.
    Der zweite Handlungsstrang der Tragödie, die Gloucester-Szenen, sind in London klug herausgearbeitet – es ist ein Höhepunkt, wenn der alte geblendete Graf auf seinem Weg nach Dover, hellsichtig, feststellt: "Das ist die Seuche dieser Zeit,/Verrückte führen Blinde."
    Das Publikum lacht – hier wird die Aktualität auf den Punkt gebracht – und das ist die Quintessenz dieser neuen Inszenierung: Wir leben, wie König Lear, in finsteren Zeiten.