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Siebenstündiger "Faust" an der Volksbühne
Kult-Regisseur Castorf lässt ein letztes Mal die Muskeln spielen

Mit einer letzten großen Inszenierung verabschiedet sich Theaterregisseur und Intendant Frank Castorf von der Berliner Volksbühne. Dabei ist Castorfs letzte Premiere in keinem Moment tränenselig. Sie glänzt vor allem mit einem einzigartigen Ensemble. Eine siebenstündige Faust-Inszenierung, auf deren Finale es sich zu warten lohnt.

Von Michael Laages | 04.03.2017
    Der Schauspieler Martin Wuttke, getaucht in grünliches Licht. Er spielt die Hauptrolle in Frank Castorfs "Faust"-Inszenierung an der Volksbühne Berlin vom März 2017.
    Martin Wuttke spielt die Hauptrolle in Frank Castorfs "Faust"-Inszenierung - seiner letzten Arbeit an der Berliner Volksbühne (Susanne Burkhardt)
    Bald nach Beginn im "Vorspiel auf dem Theater" spricht der Theaterdirektor mit jenem flämischen Zungenschlag, der so ähnlich auch Castorfs ungewolltem Nachfolger Chris Dercon eigen ist, während Martin Wuttke als "Dichter" brabbelt als wär’s Bernhard Minetti selig. Und auch ganz früh am langen Abend singt Valery Tscheplanowa, als Gretchen und Helena neu im Ensemble, bedeutungsvoll Jacques Brel:
    " ... bitte geh‘ nicht fort, bitte geh‘ nicht fort, bitte geh‘ nicht fort ..."
    Das war’s dann aber auch im Wesentlichen mit den Anspielungen aufs Ende einer echten Ära; Castorfs letzte Premiere an der Volksbühne ist in keinem Moment tränenselig oder larmoyant. Im Gegenteil: Mit Blick auf künftige Arbeiten lässt der Regisseur, der über ein Vierteljahrhundert lang stilprägend war wie keiner sonst im deutschen Theater, noch einmal als Hausherr die Muskeln spielen.
    Zur Erinnerung: Wie schon "Stella", 1990 in Hamburg, als "von und nach Goethe" deklariert, ist auch "Faust" ein Steinbruch aus Text; immer mit einem Kern von Original als Gerüst ... hier etwa im Pakt von Mensch und Teufel:

    "Das Drüben mag mich wenig kümmern, schlägst Du erst diese Welt zu Trümmern – die andere kann danach entsteh’n!"
    ... oder später im Gespräch über Sinn und Zweck von Religion:

    "Nenn’s Glück, Herz, Liebe, Gott, ich habe keinen Namen dafür. Gefühl ist alles, Namen Schall und Rauch um Nebel und Himmelsglut ... / Wenn man’s so hört, möchte’s leidlich scheinen ..."
    Grandiose Video-Arbeit von Andreas Deinerts Team
    Anderes fehlt, wird aber auch nicht wirklich vermisst: Auerbachs Keller zum Beispiel. Dafür ist die Sache mit dem Jungbrunnen natürlich zentral – Sophie Rois gastiert als Hexe und verpasst Faust Wuttke das Zauberelixier, worauf der sich endlich von der zerknitterten Greisenmaske aus Gummi verabschieden darf, mit der er bis dahin durch die Szenerie tattert.

    Soweit die zentralen Faust-Baustein. Im Gerüst aber steckt (natürlich) viel mehr. Vor allem ganz viel Frankreich; dieser Impuls ist wahrscheinlich übrig geblieben von der jüngsten Stuttgarter Beschäftigung mit der Faust-Oper von Charles Gounod. Ach übrigens: Die Musik - von Brel bis zu "Blood, Sweat and Tears", von Sphärischem bis zu Opernklang, vermutlich bei Gounod entliehen. Spaß macht dieser Abend auch; schon mit dem einzigartigen Ensemble um Wuttke, Rois und Tscheplanowa, mit Hanna Hilsdorf, Alexander Scheer, Marc Hosemann und allen ...

    Zurück nach Frankreich: Die Bühne von Alexander Denic ist eine kreisende Straßenszene, mit Metro-Eingang und (im Video) einem schönen alten U-Bahn-Wagen, an dessen Fenstern Paris vorbei zieht; die Video-Arbeit des Teams um Andreas Deinert ist grandios, so gut, dass sie (leider) geschätzt drei Viertel der ganzen Handlung einnimmt.
    Frank Castorf, Intendant der Volksbühne in Berlin
    Frank Castorf, Intendant der Volksbühne in Berlin, war über ein Vierteljahrhundert lang stilprägend im deutschen Theater (dpa / picture alliance / Claudia Esch-Kenkel)
    Der französische Kolonialismus als zentrales Thema der Inszenierung
    Der Eingang zum Nachtclub "L’enfer", also zur Hölle, befindet sich auf der anderen Bühnenseite. Die U-Bahn übrigens fährt am Boulevard Stalingrad entlang, also durch die arabisch-afrikanischen Viertel von Paris – auch so bringt Castorf das zweite große Thema ins Spiel: den französischen Kolonialismus, den algerischen Befreiungskampf. Dafür stehen zwei "people of colour", afrikanisch-stämmige Kräfte im Ensemble; Abdoul Kader Traorè zitiert gar Paul Celan "Todesfuge" auf französisch ...
    Und der "Nana"-Roman von Emile Zola erzählt von der Selbstbefreiung der Frau im Kurtisanen- und Theater-Milieu; mit diesem thematischen Schwerpunkt, sehr deutlich angedockt bei Faust und Helena und Gretchen, ist der Castorf-Kosmos für sieben Stunden komplett. Übrigens treibt er die beiden Faust-Teile quasi parallel voran, beginnt mit Homunkulus im zweiten und springt in den ersten Teil und wieder zurück – mit dem wirklich schönen Effekt, dass schließlich beide Teile zugleich ans Ende kommen.
    Um den erblindenden Faust und die barbusige "Sorgen"-Frau herum kurvt da Mephisto auf dem Kinder-Dreirad; dann tauscht er mit Faust, nimmt die Frau und gibt ihm das Dreirad, auf dem Wuttke weiter karriolt ... auf dieses Finale über manche Stunde hin zu warten, hat sich gelohnt. Und als das Haus nach ein Uhr in der Nacht noch eine Weile Beifall lärmt, stellt ein sonderbares Gefühl sich ein: vom Glück, 25 Volksbühnenjahre mitgegangen zu sein, auf verschiedenste Weise. Das ist dann doch zum Melancholischwerden ... denn das gab’s – bis auf weiteres – nur einmal, das kommt so schnell und so nicht wieder.