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Sören Kierkegaard (Teil 2)
Der Einzelne und die Massengesellschaft

Sören Kierkegaard gilt als der bedeutendste dänische Philosoph und hat die Philosophie, Theologie und Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert beeinflusst. Kierkegaards Medienkritik wurde durch ein sehr persönliches Erlebnis ausgelöst.

Von Rüdiger Achenbach | 07.07.2015
    Zuschauer warten am 20.02.2014 in der Jahrhunderthalle in Frankfurt/Main (Hessen) auf den ersten Song des Konzerts der US-amerikanischen Band One Republic (Aufnahme mit gedrehter Kamera während der Belichtung).
    Als Teil des Publikums werden die einzelnen Individuen zu einer undefinierbaren Masse, also zur Herde, meinte Sören Kierkegaard. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    "Die meisten, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum."

    Sören Kierkegaard ist überzeugt, dass viele Leute ihre Meinung einfach von irgendwelchen Meinungsmachern übernehmen.

    "Die Masse der Menschen hat keinerlei Meinung. Und da bietet denn der Journalist seinen Beistand an, indem er Meinungen verleiht."

    Die führenden Meinungsmacher sind für Kierkegaard vor allem die Journalisten. Diese üben auf doppelte Weise Einfluss auf die Leute aus: Einmal reden sie ihnen ein, dass "man" unbedingt zu diesem und jenem eine Meinung haben müsse, um ihnen dann sofort eine vorgefertigte anzubieten.

    Kierkegaards Medienkritik war durch ein persönliches Erlebnis ausgelöst worden. In Kopenhagen gab es damals ein Wochenblatt, das sich "Corsar" nannte. Die Kierkegaard-Biografin Anna Paulsen:

    "Das Blatt wollte Organ der liberalen Bewegung sein, aber keiner Partei hörig, sondern nur Stimme und Ausdruck für das Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit. Seinem Namen entsprechend wollte das Blatt witzig und pikant sein und sich dadurch von der übrigen Presse unterscheiden."

    Angesehene Honoratioren wurden verhöhnt und private Skandale aufgedeckt. In einer kleinen Stadt wie Kopenhagen, in der man sich kannte, stießen solche Geschichten auf ein großes Interesse. Auch Sören Kierkegaard amüsierten die Berichte im "Corsar".

    Das änderte sich aber, als er selbst zur Zielscheibe des Blattes wurde. Es erschienen nämlich Karikaturen, mit denen man sich zum Beispiel über seine exzentrische Kleidung und seine Art zu gehen lustig machte. Und man spottet darüber, dass er seine Verlobung mit Regine Olsen aufgelöst hatte. Eine Karikatur zeigt ihn auf den Schultern seiner ehemaligen Verlobten. Ganz Kopenhagen lachte darüber. Sören Kierkegaard reagierte gereizt:

    "Jeder Schlachtergeselle meint nun berechtigt zu sein, mich beleidigen zu können."

    Nach dieser Erfahrung sieht Kierkegaard das Medium Zeitung mit anderen Augen. Er erkennt jetzt in der Presse sogar eine Gefahr. Denn dieses Medium trägt letztlich dazu bei, die Einzelnen in der Gesellschaft zum Herdenvieh zu machen. Heiko Schulz, Professor für Religionsphilosophie an der evangelischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main:

    "Die monatelange literarische Fehde mit den Wortführern der Zeitschrift schärfte Kierkegaards kritisches Bewusstsein für die Macht der Presse und zugleich die sich ermöglichende Diktatur der Öffentlichkeit durch das 'Publikum' über den Einzelnen."

    Denn als Teil des Publikums werden die einzelnen Individuen zu einer undefinierbaren Masse, also zur Herde. Das Publikum ist deshalb ein anonymes Phantom, das sich keiner Verantwortung zu stellen hat. Deshalb hat Kierkegaard Mitleid mit jedem Einzelnen, der sich gegen diese Masse stellt.

    "Ein wahres Martyrium ist da, wo man mit der Menge zu tun hat."

    Mit Publikum meint Kierkegaard soziologisch gesehen immer "das Man", hinter dem sich "das Ich" in der Herde verstecken kann. Außerdem lässt sich das Publikum, als Masse, durch die Presse lenken.

    "Je stumpfer die Zeit, umso mächtiger die Presse. Die Presse ist der niedrigste Versuch die Gewissenlosigkeit als Prinzip der Menschheit zu konstatieren."

    Ohnehin hält Kierkegaard die Masse für die gefährlichste von allen Mächten. Der dänische Kierkegaard-Biograf Joakim Garf vom Kierkegaard Forschungszentrum in Kopenhagen:

    "Kierkegaards Analysen über das Publikum in Gestalt des großen Nivellierungsmeisters sind eine hervorragende Darstellung der Mechanismen der Massenpsychologie, sie enthüllen aber außerdem jenes Phänomen, das seit Marx immer wieder zur Sprache kommt: das Phänomen Entfremdung."

    Beide, Marx und Kierkegaard, wenden sich vor allem gegen Hegels scheinbar so vernünftige Welt. Sie gehen dann aber unterschiedliche eigene Wege. Während Marx die äußeren Existenzverhältnisse der Masse in den Blick nimmt, geht es Kierkegaard um das innerliche Existenzverhältnis des Einzelnen zu sich selbst. Da Kierkegaard im philosophischen System Hegels den Menschen bereits als abstraktes Gedankenkonstrukt entlarvt hatte, bei dem der Mensch nur auf ein allgemeines Wesen reduziert wird, erkennt er nun, dass Hegel auf diese Weise mit dazu beiträgt, den einzelnen Menschen mit seinen individuellen Besonderheiten innerhalb der Masse zum Verschwinden zu bringen.

    In Hegels Vorstellung der Weltgeschichte setzt sich der Weltgeist als absolute Vernunft durch und macht lediglich die Völker zu den Trägern der geschichtlichen Entwicklung. Der Einzelne hat dabei für den Weltgeist keine besondere Bedeutung. Dazu der Philosoph Karl Löwith:

    "An die Stelle von Hegels tätigem Geist tritt bei Marx eine Theorie der gesellschaftlichen Praxis und bei Kierkegaard eine Reflexion des inneren Handelns des Individuums. So fern sie einander sind, so nah sind sie miteinander verwandt, im gemeinsamen Angriff auf das Bestehende und in ihrer Distanzierung zu Hegels Philosophie."

    Kierkegaard gehört zu seiner Zeit zu den wenigen, die scharfsinnig erkennen, dass Individualität, die als Errungenschaft der Neuzeit gilt, durchaus keine Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geworden ist. Im Gegenteil. Das Individuum geht zunehmend wieder in einer anonymen Masse verloren. Diese Gefahr sieht Kierkegaard auch im kollektiven Denken des Sozialismus.

    "Es kann keine Rede davon sein, dass die Idee des Sozialismus und der Gemeinschaft die Rettung der Zeit wird, weil in unserer Zeit jede Art von Zusammenschluss in irgendeinem System eine nivellierende Macht bedeutet."

    Leidenschaftlich grenzt sich Kierkegaard daher gegen die Vorstellung ab, dass der Mensch seine wahre Natur nur in der Gemeinschaft entwickeln könne.

    "Wie man in der Wüste in großen Karawanen reist aus Furcht vor Räubern und wilden Tieren, so haben die Individuen jetzt ein Grauen vor der Existenz. Nur herdenweise wagt man noch zu leben und klammert sich zusammen in der Masse, um doch noch etwas zu sein."

    Kierkegaard beobachtet bereits eine schrittweise Diktatur des "Man". Man denkt, man redet, man meint, man tut dies und das. Wo das "Man" regiert, wird man unversehens zum Abklatsch der anderen. Keiner wagt, er selbst zu sein, keiner wagt, aus der Reihe zu tanzen. Die Kierkegaard-Biografin Anna Paulsen:

    "Ein solcher Mensch wagt niemals etwas zuerst zu tun, er schaut erst umher, bis er sieht, wie die anderen es machen. Denn 'die anderen', das ist das, wovon er sich abhängig macht."

    Kierkegaard erkennt, wenn er ein Korrektiv zu dieser Entwicklung der Massengesellschaft finden will, dann muss er beim einzelnen Individuum ansetzen und die konkrete Existenz des Einzelnen zum Schwerpunkt seines Denkens machen.

    An den Lebensformen des Ästhetikers und des Ethikers hatte er ja bereits dargestellt, dass immer dann, wenn der Mensch sich zu sehr an das Äußerliche klammert, er letztlich an der Sinnlosigkeit und Unsicherheit seines Lebens verzweifeln kann.

    Zu dieser Verzweiflung kommt es für Kierkegaard, da der Mensch seine wahre Identität nicht erkennt. Richard Purkarthofer, Mitarbeiter an der dänischen und deutschen Neuausgabe der Kierkegaard Werke:

    "Obwohl physisch alles in Ordnung ist, wird das Dasein des betroffenen Menschen zu einem unlebbaren Leben; obwohl der Mensch vielleicht alles hat, fehlt ihm doch das Ganze. Der Verzweifelte ist ein Untoter, ein Zombie."

    Es geht also darum, dass der jeweils Betroffene wieder zur Einheit mit sich selbst gelangt. Dazu muss er sich aber zunächst seine anthropologischen Ausgangsbedingungen klar machen.

    Dabei ist für Kierkegaard deutlich: Der Mensch ist einerseits ein Naturprodukt ebenso wie jedes Tier und jede Pflanze, deshalb hat er wie alle materiellen Körper teil an der Endlichkeit, Zeitlichkeit und Notwendigkeit. Anderseits hat der Mensch auch Geist und hat daher auch teil am Immateriellen, das nicht von Raum und Zeit abhängig ist. Annemarie Pieper, Professorin für Philosophie an der Universität Basel:

    "Jeder Mensch ist aufs 'Geist sein' angelegt. Das Existieren als einzelner Mensch ist nämlich nicht Sein in demselben Sinne, wie die Kartoffel ist. Was den Menschen von der Kartoffel unterscheidet, ist seine Art zu Sein, das Existieren."

    Denn die Kartoffel als reines Naturprodukt ist einfach nur in Raum und Zeit vorhanden. Ihr fehlt aber der Geist, um sich zu sich selbst und zu ihresgleichen verhalten zu können. Die Kartoffel ist vorhanden, aber sie existiert nicht.

    Der Mensch hingegen ist Geist und kann sich zu sich selbst und allen anderen Dingen verhalten. Der dänische Kierkegaard Biograf Peter P. Rohde:

    "Daher ist der Mensch eine Synthese. Ein Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, vom Zeitlichen und vom Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit."

    Kierkegaard, der als leidenschaftlicher Shakespeare-Leser gerne Begriffe aus der Bühnensprache aufgreift, schiebt nun die Kulissen zur Seite und leuchtet in die Verborgenheit des menschlichen Daseins.

    "Auf der Bühne des bürgerlichen Daseins spielen die Menschen ihre Rolle wie auf ein Stichwort hin, das ihnen zu Teil wird. Das aber ist nur das Bühnenspiel, die wahre Existenz liegt dahinter."

    Vor den Kulissen auf der Bühne präsentiert sich der Mensch für die objektive Wahrnehmung als psychische, historische oder soziologische Gegebenheit. Die einzelne Zuordnung hängt dabei vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters ab. Der Philosoph Wilhelm Anz:

    "Kierkegaard leugnet nicht, dass jeder von uns natürlich auch eine Gegebenheit ist, aber wir sind eben auch 'Person'. Davon sieht die objektivierende Erkenntnis des reinen Verstandes ab."

    Erst hinter den Kulissen, ohne Masken und ohne Verkleidung, wird die nackte Existenz freigelegt. Hier wird deutlich, dass rein objektiv gesehen das wahre Sein des Menschen gar nicht erfasst werden kann. Außerdem bietet alles objektiv Wahrnehmbare in Raum und Zeit nicht wirklich einen Halt. Es bestätigt sich also die Erfahrung, dass der Mensch in der Welt mit ihren zeitlichen und vergänglichen Dingen keine Geborgenheit findet. Der Mensch scheint hier an eine Grenze des Nichts zu stoßen. Wilhelm Anz:

    "Inmitten dieser Reflexion des Nichts erfährt die existierende Subjektivität sich als ewiges Selbst bestätigt. Und dieser Glaube an die unverlierbare Existenz ist religiöser Glaube."

    Denn das existierende Individuum erfährt sich gegenüber einer ewigen Macht, mit der es fest verbunden ist und aus der es sich nicht herausnehmen kann. Annemarie Pieper, Professorin für Philosophie an der Universität Basel:

    "Der Existierende kehrt in seinen Grund zurück, in welchem er wurzelt, getragen vom Bewusstsein eines unzerstörbaren Sinns."

    Kierkegaard knüpft hier an Martin Luthers "coram deo"-Vorstellung an, nach der jeder Einzelne direkt vor Gott steht. Wie für Luther ist auch für Kierkegaard die letzte Wirklichkeit des Menschen sein Gottesverhältnis.

    "Niemand steht zwischen mir und dem letzten Geheimnis der Existenz. Erst wenn ein Selbst als dieses bestimmte Einzelne sich bewusst ist, 'dazu sein vor Gott', erst dann ist es das unendliche Selbst."

    Die Kierkegaard-Biografin Anna Paulsen:

    "Dieses ist das ungeheure Zugeständnis der Ewigkeit, dass der einzelne Mensch, jeder beliebige einzelne Mensch, was und wer immer er sein mag, 'da ist' vor Gott. Gott ist der unveränderliche Grund unserer Freiheit."

    Kierkegaard hatte zuvor beklagt, dass es das Unglück seiner Zeit sei, dass man vergessen habe, was Innerlichkeit ist. Jetzt meint er, eine Lösung gefunden zu haben. Er nennt dieses immanente, durch Selbstbesinnung jederzeit herstellbare Ewigkeitsverhältnis: Religiosität A. Damit will er andeuten, dass das existierende Individuum zwar bereits in eine religiöse Existenz eingetreten ist, die aber noch nicht ausreicht, um die wahre Identität mit sich zu erlangen.

    Er warnt sogar davor, dass im Stadium dieser Religiosität die Versuchung zu groß sei, ausschließlich im Ewigen existieren zu wollen. Da aber der Mensch, wie bereits vorgestellt, eine Synthese aus Ewigkeit und Zeitlichem ist, müsse er sich auch zu diesen beiden Seiten verhalten.

    Die einzige Möglichkeit über diese allgemeine religiöse Existenz, die sogenannte Religiosität A, hinauszukommen, bietet sich für Kierkegaard in der Entscheidung für Religiosität B, die christliche Lebensform.

    Doch hier steht er zunächst vor einem Problem. Denn die christliche Lebensform setzt den Glauben an Jesus Christus voraus. Aber wieso sollte man, indem man sich auf ein historisches Ereignis beruft, das vor beinahe 2000 Jahren geschehen ist, heute ewige Seligkeit erlangen können?