Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Souveränität, Mut, Loyalität

Man mag glauben, dass Joseph Conrads Romane viel Rückschlüsse auf seine biografischen Erfahrungen zulassen. Aber der Schriftsteller war ein Meister der Camouflage, er hat sich in gewisser Weise selber erfunden. Zurückgezogen auf seinem englischen Landsitz starb er 1924, mit 66 Jahren, an Herzversagen. Geblieben sind uns seine bis heute fesselnden Romane über schicksalhaftes Scheitern und den Kampf um menschliche Größe.

Ein Beitrag von Kerstin Kilanowski | 03.12.2007
    CD "Herz der Finsternis", GEO Hörwelten
    Sprecher: Christian Brückner
    "Marlowe saß an den Besan-Mast gelehnt mit überkreuzten Beinen achtern. Mit seinen hohlen Wangen, seiner gelblichen Gesichtsfarbe und seinem aufrechten Rücken bot er einen asketischen Anblick und erinnerte mit seinen herabhängenden Armen, die Handflächen auswärts gekehrt an eine Götterstatue."

    ABER WER IST MARLOWE?
    Marlowe, der seine Erinnerungen auf einer nächtlichen Veranda in den Tropen zum Leben erweckt. Marlowe, der im Dunst der Themse zur Dämmerstunde sein Garn spinnt. Ein erfahrener Alter, umgeben von jugendlichen Zuhörern, die seinen unglaublich erscheinenden Geschichten lauschen: über den glücklosen Jim im malaischen Archipel; über den wahnsinnigen Mr. Kurtz am Oberlauf des Kongo. Oder über einen Schiffbruch in der Südsee.

    Ist Marlowe ein englischer Kapitän, der Geschichten erzählt?
    Oder ist er in Wirklichkeit das Alter Ego des Schriftstellers Joseph Conrad, der in seiner ersten Lebenshälfte Seemann war?

    Man mag glauben, dass Conrads Romane viel Rückschlüsse auf seine biografischen Erfahrungen zulassen. Aber der Schriftsteller war ein Meister der Camouflage, er hat sich in gewisser Weise selber erfunden. Auch die beiden so eben erschienen Biografien von John Stape und Elmar Schenkel stellen in der Einleitung klar: wenn es um Conrads Leben geht, vermischt sich Dokumentarisches mit Fiktion. Und jeder Biograf schreibt an dieser Fiktion ein bisschen weiter.

    Denn es gibt zu viele weiße Stellen im Lebenslauf des Literaten, zu viel Widersprüchliches in den wenigen erhaltenen Briefen. Und ein Tagebuch schrieb Conrad leider nie. Fest steht: Der junge Mann zählt ganze 17 Jahre, er sich 1874 von Krakau nach Marseille durchschlägt, um dort Matrose zu werden. Und er wird die nächsten 19 Jahre seines Lebens auf See verbringen, als Zweiter Offizier, Steuermann, schließlich als Kapitän der britischen Handelsmarine die Meere zwischen Malaysia, Indonesien, Australien durchziehen.

    Wie sich die beiden Autoren Elmar Schenkel und John Stape Conrads Leben und Werk annähern, ist sehr verschieden. Beide schildern allerdings fundiert die damalige politische Situation Europas, die in Conrads Lebenslauf einen wichtigen Hintergrund bildete.

    Elmar Schenkel verzichtet in seiner biografischen Annäherung "Fahrt ins Geheimnis" konsequent auf eine Chronologie. Stattdessen umkreist er verschiedene Aspekte des literarischen Werks, greift Schlüsselerlebnisse auf, begleitet verschrobene Personen aus Conrads Leben zurück in dessen Erzählungen und Romane. Schenkel schlägt dem Leser vor, wie es gewesen sein KÖNNTE und entwickelt dabei selber seinen eigenen literarischen Stil. Was sich faszinierend liest wie ein Roman von Conrad selbst, hat genau dort seine Grenzen. Denn das, was immerhin gesichert über das Leben des Schriftstellers bekannt ist, möchte man irgendwann kompakt erfahren.

    Gesichert ist, das Conrad, der die Weltmeere befahren hat, einmal für die Belgische Handelsgesellschaft das Kommando auf einem Flussdampfer übernahm. Es wurde eine Reise auf dem Kongo in das Innere Afrikas - eine Reise in das "Herz der Finsternis".

    Bis dato hatte Conrad nichts geschrieben außer ein paar Seiten über skurrile Begegnungen im malayischen Archipel. Aber das Entsetzen über europäische Barbarei in den Kolonien, in denen das Leben eines Afrikaners keinen Heller wert ist, sich dagegen der charakterloseste Europäer zum lokalen Imperator empor schwingen darf - diese Erfahrungen haben sich in Conrads Erinnerungen eingebrannt.

    Und hierin liegt die Stärke von John Stapes "Im Spiegel der See". Streng chronologisch erfahren wir nicht nur alles, was über das Leben des Autors dokumentiert ist. Darüber hinaus liefert Stape ein sehr gut recherchiertes, plastisches Porträt über die Welt der Kolonien Ende des 19. Jahrhunderts, die Conrad bereiste. Wie müssen wir uns das damalige Sidney vorstellen? Welchen Flair hatte Marseille als Tor zur Welt? Wie sahen die karibischen Inseln und ihre Menschen damals aus?

    Stape begleitet jede Etappe des Seemanns. Und er dokumentiert -manchmal zu sehr in Details verstrickt - die Kämpfe mit Verlegern, Honorarforderungen, überzogene Konten, schlecht gedruckte Erstausgaben... Denn so sehr Conrad heute zum Kanon der Weltliteratur gehört, seine eigentliche literarische Laufbahn begann spät.

    Erst mit 37 Jahren veröffentlicht Conrad seinen ersten Roman "Almayers Wahn". Als Spätfolge seiner Kongo-Reise war der leidenschaftliche Kapitän durch Malaria und Ruhr berufsuntauglich geworden.
    Der ferne Schauplatz Borneo in 'Almayers Wahn' erfüllt allerdings weder den Hunger des damaligen Publikums auf exotische Reiseberichte, noch bietet er eine Projektionsfläche für romantische Paradiese.

    Es ist vor allem eine Geschichte über das menschliche Scheitern, die Unberechenbarkeit, die Abgründe der Seele. So sumpfig-modrig, dem Verfall preisgegeben und gleichzeitig verschlingend die Natur ist, gebärden sich auch Einheimische und Europäer in Conrads Erstlingswerk. Zukunftshoffnungen mutieren zu fixen Ideen, Lebensplanungen erweisen sich als Phantasmagorien.

    Joseph Conrad war ein melancholischer Mensch, das ist bekannt. Dass er allerdings an Schüben von schweren klinischen Depressionen litt, die ihn über Wochen handlungsunfähig machte, erfährt man so zum ersten Mal in John Stapes Biografie "Im Spiegel der See". Es sind also nicht nur Conrads desillusionierende Erlebnisse in Übersee, die sich wie ein Schatten auf die Protagonisten der Romane legen. Vielmehr sind es auch die eigenen Abgründe, die Verzweiflung des seelisch kranken Schriftstellers.

    Dreizehn große Romane, viele Erzählungen und Essays verfasste Conrad, nachdem seine seemännische Laufbahn beendet war.

    "Lord Jim", "Der Nigger von der Narcissus", "Nostromo" - und das mehrfach verfilmte "Herz der Finsternis". Geschichten über Menschen in Ausnahmesituationen, die unabhängig von den Widrigkeiten der äußeren Umstände Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen müssen. Die Herren ihres souveränen Denkens und Handelns sind.
    Und die dennoch scheitern, weil sie nicht gottgesandte Helden sind, sondern verwickelt in die menschlichen Bedingungen des Daseins. Wo nicht nur Idealismus, Opferbereitschaft, Tapferkeit zu Hause sind, sondern Eitelkeit, Trägheit, Verrat.

    Diesem Antagonismus der menschlichen Existenz hat Joseph Conrad vielleicht in "Herz der Finsternis" seinen stärksten Ausdruck verliehen.

    CD "Herz der Finsternis" GEO Hörwelten, es liest: Christian Brückner
    "Ihr hättet ihn hören müssen, wie er : 'Mein Elfenbein' sagte.
    O ja, ich habe ihn gehört. 'Meine Braut, mein Elfenbein, meine Station, mein Fluß, mein....'
    Alles gehörte ihm.
    Mir stockte der Atem in der Erwarung, die Wildnis in ein gewaltiges schallendes Lachen ausbrechen zu hören, dass noch die Fixsterne gründlich durchschütteln würde. Alles gehörte ihm - aber das war eine Lapalie. Es kam darauf an, zu erkennen, wem ER gehörte, wieviele Mächte der Finsternis ihn als ihr Eigentum beanspruchten.

    Das war der Gedanke, der einem Schauer über den Rücken jagte.
    Der Versuch, sich das vorzustellen, war unmöglich und obendrein nicht ratsam."

    Über diesen zur See fahrenden Literaten, der zeitlebens ein im Herzen Einsamer blieb, sind nun zwei sehr lesenswerte Bücher erschienen. Eine literarische Begegnung mit Conrad, die sich selbst wie ein Roman liest.

    Und eine detaillierte Biografie mit Index, ausführlichen Anmerkungen und hervorragendem Quellenverzeichnis, die auch wissenschaftlichen Anforderungen genügt.

    Zurückgezogen auf seinem englischen Landsitz starb er 1924, mit 66 Jahren, an Herzversagen.
    Geblieben sind uns seine bis heute fesselnden Romane über schicksalhaftes Scheitern und den Kampf um menschliche Größe. Souveränität, Mut, Loyalität - das sind Tugenden, die das gesamte literarische Werk Conrads durchziehen.

    Und wer ist noch mal Kapitän Marlowe? Eine fiktionale Figur in Joseph Conrads Geschichten.
    Erfunden von einem Schriftsteller, der selber zur Fiktion wurde.

    Elmar Schenkel, "Fahrt ins Geheimnis", Joseph Conrad. Eine Biographie.
    Fischer Verlag 2007, 367 Seiten, 29.90 Euro

    John Stape, "Im Spiegel der See", Die Leben des Joseph Conrad. (Übersetzung: Eike Schönfeld),Marebuchverlag 2007, 540 Seiten, 39,90 Euro