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Spannungsvoller und hochkarätiger Auftakt in Avignon

Das 1947 gegründete Avignon-Festival gehört zu den größten Theatertreffen der Welt und präsentiert traditionelle wie moderne Stücke. 2012 eröffnete es mit zwei Uraufführungen - "Refuse the hour" von William Kentridge und Experimentelles der Beiruter Künstler Lina Saleh und Rabih Mroué.

Von Eberhard Spreng | 09.07.2012
    Jacques Brels "Le dernier repas" tönt aus den Lautsprechern, dann läuft die Nadel in die Auslaufrille und knackt rhythmisch vor sich hin. Der Computerbildschirm flammt mit einem Facebookkommentar auf, dann meldet sich das Smartphone. Aber Diyaa Yamout hat sich umgebracht und alles was wir sehen, sind seine Kommunikations- und Medientechniken, auf denen erst ungläubig dann schockiert auf seinen Tod reagiert wird.

    Lina Sanee und Rabih Mroué haben auf der Bühne vor einer Leinwand also nur einen Schreibtisch mit Computer errichtet, neben dem die Hi-Fi-Anlage und ein Fernseher steht, ein Faxgerät, Festnetz und Mobiltelefon, alles also, was zum Chatten, Simsen, Telefonieren, Mailen, Posten, Bloggen und Screenen gebraucht wird. Ein Heer digitaler Maschinen um seinen abwesenden Herrscher. Und nichts ist spannender als die Abwesenheit, als Fragen, die ohne Antwort bleiben. Rabih Mroué interessiert das Spannungsfeld zwischen einer individuellen Entscheidung und der öffentlichen Polemik, die sie auslöst.

    "Es ist doch von den Leuten arrogant zu glauben, sie wüssten um die Gründe für den Selbstmord. Warum genau, wissen wir nicht. Was uns interessiert hat, sind die Folgen von Diyaas Tat. Eben gerade, weil sie eine öffentliche Polemik ausgelöst hat, unter Freunden aber auch der gesamten libanesischen Öffentlichkeit."

    Aus den Facebookkommentaren erfahren wir Anteilnahme, Ablehnung der Tat aus religiösen Gründen, andere sehen sie als Fanal für eine libanesische Befreiungsbewegung und in der Tradition des Selbstmordes des Tunesiers Mohammed Bouazizi, mit dem der arabische Frühling begann. Das Fernsehen schaltet sich mit einer Reportage und später auch einer Talkshow ein und entfacht seinerseits den Shitstorm in der Facebook-Community. Wir erleben am konkreten Beispiel in allen Details die Anatomie medialer Entrüstungsrituale, den Kampf des neuen mit dem alten Medium beim Streit um die Deutungshoheit. Aber "Trente-trois tours et quelques secondes" führt aus der Logik der öffentlichen Debatten in das private Geheimnis. Zu sehen ist, im politisch erhitzten Geschwätz der Welt, eine persönliche Tragödie.

    Auch in diesem Jahr sind abseits von Simon McBurneys hübscher Bildermaschine um Bulgakows Meister und Margarita im Papstpalast und den frivolen Albernheiten eines Christophe Honoré, der Autoren des Nouveau Roman zu Figuren einer vulgären Show macht, die kleinen und mittleren Formate überzeugender, wie in William Kentridges "Refuse the Hour".

    Ganz oben über der Bühne hängen die zerlegten Teile eines Schlagzeuges, dessen Stöcke und Klöppel von einer Mechanik angetrieben werden. Unten, auf der Bühne sitzen Musiker mit ungewöhnlichen Musikinstrumenten: ein kleines Harmonium, eine Cornet-Violine und weiteres. Metronome klacken in einer Videoprojektion, bizarre Holzskulpturen recken ihre beweglichen Gliedmaßen in die Luft. Auf Bühnenwänden stehen Slogans wie "Anti-Entropy" und "Give us back our Sun". Die Kammeroper "Refuse the Hour" funktioniert dabei wie die persönliche, autobiografisch beeinflusste Ergänzung zu Kentridges Kasseler Installation "The Refusal of Time". Der Künstler bleibt während der Aufführung das Zentrum des Geschehens und motiviert seine Meditationen über Takt, Zeit, Raum und Schicksal mit einer Erinnerung aus seiner Kindheit. Da las sein Vater ihm auf einer Zugfahrt die Geschichte von Perseus und dessen Großvater Akrisios vor, die Geschichte eines Orakelspruches und einer fataler Verkettung, die mit der versehentlichen Tötung des Großvaters endet.

    Zwei Welten stoßen in der Aufführung aufeinander: Die westliche Organisation der Zeit und der unwillkürliche afrikanische Widerstand gegen eine als Kolonialismus verstandene Taktung von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Monaten und Jahren.

    In kosmischem Maßstab sind es, wie der Künstler im weißen Sommerhemd mit seinem Monokel abschließend erklärt, die schwarzen Löcher, die Licht, Geschichte und Leben letztlich in sich aufsaugen und mit ihnen natürlich auch alle westliche Techniken der Zeitmessung. Dann übernimmt der afrikanische Teil des Ensembles die Geschicke auf der Bühne, die als Errungenschaft der Moderne gefeierte Synchronisation von Uhren, Ablauf, Mechanik hat ausgedient.

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