Für die Sportsoziologie ist klar: Der Sport hat für das Funktionieren der modernen Gesellschaft nicht die Bedeutsamkeit von Wirtschaft, Politik, Recht oder Wissenschaft. Trotz einiger Entzugserscheinungen bei Fans und schlechteren Bilanzen der Unterhaltungsbranche – die Gesellschaft würde auch ohne Sport funktionieren.
Für Karl-Heinrich Bette ist klar: Genau deshalb ist dort die sonst eher ausgestorbene Heldenverehrung auch heute noch möglich. Um seine Ausführungen zu fundieren, beschreibt Bette die Arrangements, die den Spitzensport dazu prädestinieren, Helden zu erzeugen. Den sportlichen Wettkampf beschreibt der Darmstädter Sportsoziologe als eine sozial konstruierte Situation, in der einzelne Personen oder Mannschaften vor den Augen des Publikums die Chance erhalten, künstlich erzeugte Krisen zu bewältigen und eine durch Regeln kontrollierte Not beim Gegner zu erzeugen.
"Handlungsbeiträge bis ins Heroische steigern"
Real existierende Menschen würden dadurch in die Lage versetzt, sich leistungsmäßig zu individualisieren und sozial sichtbar zu machen. Damit biete der Spitzensport in postheroischen Zeiten etwas ganz Besonderes:
"Während Menschen in Organisationen hinter den Kulissen verschwinden, um dort ihre Arbeitsleistungen in unüberschaubaren Handlungs- und Wirkungsketten zu erbringen, offeriert der Spitzensport den genau umgekehrten Effekt. Einzelne Personen oder Mannschaften dürfen sich im Rahmen organisierter Wettbewerbe vor einem Massenpublikum in ihren Leistungsfähigkeiten präsentieren und erhalten so strukturell die Chance, ihre Handlungsbeiträge bis ins Heroische zu steigern."
Dem Zusammenspiel von Medien und Sporthelden will sich diese Rezension etwas genauer zuwenden.
Die Rolle der Massenmedien
Die häufige Verwendung des Heldenbegriffs im öffentlichen Diskurs deute, so Bette, auf die Logik der Massenmedien und den Wettbewerb der Medienorganisationen untereinander hin.
"Wirtschaft, Politik und Massenmedien sind also nicht wirklich, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, an den Helden des Sports interessiert, sondern immer nur an sich selbst. Und weil Wirtschaft, Politik und Massenmedien im Rahmen ihrer operativen Geschlossenheit nur an sich selbst interessiert sind, sind sie am Sportpublikum interessiert, das in postheroischen Zeiten an Sporthelden interessiert ist."
Um die Aufmerksamkeit und Gunst des Publikums in eigener Sache auf sich zu lenken, spielten Medienakteure die Karte der Heldeninszenierung immer wieder neu aus. Dies könne in eine Spirale von Heldenerzeugung und Heldenbanalisierung führen. Die Suche nach neuen Helden würde hierdurch für die Medien zu einer existentiellen Aufgabe. Dies habe dazu geführt, dass Medien, insbesondere Fernsehanstalten, maßgeblich und ursächlich an der Erschaffung hauseigener Sporthelden beteiligt waren und sind.
Doch was bedeutet dieser von Bette angesprochene Sachverhalt für den Sportjournalismus? Und welche Auswirkungen hat das auf die vielfach beschworene Distanz der Journalisten, die für eine objektive Berichterstattung und Beobachtung durch die Zuschauer unabdingbar ist?
Interessenskonflikte durch Unterhaltungsfokussierung
Damit beschäftigt sich Fabian Kautz vom Arbeitsbereich Medien und Kommunikation der Technischen Universität München. Er kommentiert Bettes Gedanken so:
"Die Kontrollfunktion und die Kritik von Missständen zählt zu den elementaren Grundfunktionen des Journalismus – und das gilt selbstverständlich auch für das Sportressort. Gleichzeitig ist es so, dass durch eine zunehmenden Entertainisierung die Akzeptanz dieser Rolle immer mehr leidet – das ist durch empirische Studien auch belegt.
Durch die Unterhaltungsfokussierung können auch Interessenskonflikte entstehen. Dahingehend, dass zentrale Probleme des Sports wie Doping und Korruption lieber ausgeblendet werden, weil sie der Unterhaltung schaden.
Traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang das Zitat des ehemaligen ARD-Sportkoordinators Hagen Boßdorf, der sagte: `Sagt die Telekom, es gibt keinen Dopingfall, dann gibt es auch keinen Dopingfall für die ARD´."
"Mediale Perspektive als Kritiker"
Wie soll man mit Fans unter den Sportjournalisten umgehen? Und kann die Begeisterung von Berichterstattern und Rezipienten für Sporthelden angesichts der dunklen Seite des Sports überhaupt gut geheißen werden? Für Fabian Kautz ein Drahtseilakt, der besondere Fähigkeiten verlangt.
"Gleichzeitig ist es dann auch so, dass diese kritische Berichterstattung als Kontrollfunktion vielleicht so dringend ist wie noch nie zuvor. Sport kann der Gesellschaft positive Dinge liefern. Er liefert positive Vorbilder, er liefert eine Erziehung zur Fairness, aber durch Doping und Korruption ist das ganze hinfällig. Und es zeigt sich aber in der Vergangenheit immer mehr, dass der Sport als System selbst nicht dazu in der Lage ist, sich selbst zu reinigen, sondern dass es zum Beispiel Journalisten sind, die in den vergangenen Jahren immer Doping und Korruption aufgedeckt haben und das zeigt auch, wie wichtig diese mediale Fremdperspektive als Kritiker tatsächlich auch ist."
Die Heroisierung könne laut Bette aber negative Auswirkungen auf die Athleten und Athletinnen selbst haben.
"Durch die Dauernachfrage nach heroischen Taten durch Sportverbände, Publikum, Massenmedien, Wirtschaft und Politik gehen Sporthelden allerdings das Risiko ein, durch die Erwartungen, Belohnungen und Verheißungen ihres gesellschaftlichen Umfeldes physisch und psychisch überfordert zu werden. Heldenstatus im Sport ist deshalb immer prekär und labil."
Auch Multimillionäre können von heute auf morgen abstürzen, die Gunst des Publikums verlieren und zu tragischen Helden mutieren.
"Profunde Analyse des Heroischen im Spitzensport"
Abschließend zeigt sich bezüglich des rezensierten Buches folgendes Bild:
Wer seinen oberflächlichen Blick auf den Spitzensport beibehalten und einer naiven Heldenverehrung weiterhin nachhängen möchte, sollte um dieses Buch einen großen Bogen machen.
Wer hingegen an einer profunden und abgewogenen Analyse des Heroischen im Spitzensport interessiert ist, wird durch die Lektüre des Buches von Karl-Heinrich Bette sicherlich bereichert werden.
Karl-Heinrich Bette: "Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten"
Bielefeld 2019: transcipt Verlag. 209 Seiten. 29,99 Euro
Bielefeld 2019: transcipt Verlag. 209 Seiten. 29,99 Euro