Donnerstag, 28. März 2024

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Sure 54 Vers 1
Wie viele historische Informationen enthält der Koran?

Der Koran ist schwer zu verstehen. Wunder oder Realität? Zukunft oder Vergangenheit? Es ist nicht immer eindeutig, ob es in einem Vers um tatsächliche Geschehnisse geht oder um Ereignisse am Tag des Jüngsten Gerichts. Gelehrte streiten vor diesem Hintergrund zum Beispiel über die Vertreibung eines jüdischen Stammes - aber auch über eine Mondspaltung.

Von Prof. Dr. Marco Schöller, Westfälische Wilhelms-Universität Münster | 29.01.2016
    "Die Stunde ist nah, und der Mond hat sich gespalten."
    Dass der Koran an vielen Stellen kein Buch ist, das sich durch einfache Lektüre erschließt, ist bekannt. Es gibt aber einige viel diskutierte Passagen, deren genaue Aussage nicht nur umstritten, sondern unklar ist. Oder anders gesagt: Mann kann nicht genau bestimmen, auf welches Ereignis sich ein bestimmter Vers tatsächlich bezieht.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    So etwa im eingangs zitierten ersten Vers der Sure 54. "Die Stunde" bezeichnet höchstwahrscheinlich die Stunde des Jüngsten Gerichts. Demnach beschreibt die Mondspaltung ein Ereignis, welches den nahenden Gerichtstag ankündigt. Es handelt sich somit um ein Anzeichen für den Beginn der Endzeit, wie es an vielen Stellen des Korans ähnlich geschildert wird.
    Tatsächlich aber gehen die muslimischen Koranausleger mehrheitlich davon aus, dass es sich bei der erwähnten Mondspaltung um ein Wunder handelt, das sich zur Zeit des Propheten zugetragen haben soll. Als die Ungläubigen ihm nämlich nicht glaubten, der wahre Gottgesandte zu sein, ließ Gott ein Wunder sichtbar werden: Über den Bergen von Mekka teilte sich der Mond in zwei Hälften, die in den Osten und den Westen wanderten, um sich anschließend wieder zu vereinen.
    Marco Schöller hockt in der Nische eines historischen Gebäudes.
    Prof. Marco Schöller hat seinen Lehrstuhl an der Uni Münster. (priv. )
    Das wird in zahlreichen Überlieferungen von Leuten berichtet, die dieses Schauspiel gesehen haben wollen. Zugleich gilt die Mondspaltung – neben der Offenbarung des Korans selbst – als das wichtigste Wunder, welches für Muslime die Wahrhaftigkeit Mohammeds bezeugt.
    Einige muslimische Koranausleger aber behaupteten stets, die in Vers 54:1 geschilderte Mondspaltung meine nicht ein historisches, also ein vergangenes Ereignis, sondern ein erst vor dem Anbruch des Jüngsten Tages stattfindendes Geschehen.
    Der Kontext des Verses hilft im Übrigen nicht weiter, um die Frage zu klären, ob hier ein vergangenes oder künftiges Ereignis angesprochen ist. Wichtig ist das deshalb, weil hiervon abhängt, ob eines der wichtigsten Wunder, das die Prophetenschaft Mohammeds beglaubigen soll, im Koran erwähnt wird oder nicht.
    Eine vergleichbare Problematik ergibt sich in Sure 59 Vers 2. Dort wird von einer Vertreibung von "Leuten der Schrift" gesprochen - so werden im Koran vor allem Juden oder Christen genannt. Die muslimische Überlieferung setzt diese Stelle mit der Vertreibung eines jüdischen Stammes aus Medina in Beziehung, die sich zu Mohammeds Lebzeiten zugetragen haben soll.
    In der Mitte des Verses heißt es jedoch, diese Vertreibung habe "zu Beginn der Zusammenscharung" stattgefunden. Das arabische Wort für "Zusammenscharung" lautet al-hashr. Es ist dasjenige, welches im Koran sonst stets die Versammlung der Menschen am Jüngsten Tag bezeichnet.
    Also auch hier kein Bezug auf ein historisches Ereignis, sondern auf ein künftiges, endzeitliches Geschehen? Der Kontext gibt erneut keine eindeutigen Hinweise.
    Die große Mehrzahl der muslimischen Koranausleger bezieht diesen Vers dennoch auf das historische Ereignis – nämlich die Vertreibung eines jüdischen Stammes aus Medina. Sie erklären den Begriff "zu Beginn der Zusammenscharung" entweder damit, dass hier die Juden zum ersten Mal "zusammengeschart" wurden oder damit, dass sich die Truppen Mohammeds damals zum ersten Mal "zusammengeschart" hätten.
    Doch in diesem Fall behaupten ebenfalls einige Exegeten, das angesprochene Ereignis beziehe sich sehr wohl auf die Endzeit und habe noch gar nicht stattgefunden. Es bleibt also offen, ob die Vertreibung von Juden zu Mohammeds Lebzeiten im Koran erwähnt ist oder nicht.
    Wir können das aus heutiger Sicht nicht mehr klären. Der Koran bleibt in diesen Passagen ein besonders schwierig zu entschlüsselnder Text. Wenn es sich aber in beiden Fällen um endzeitliche Ereignisse handeln sollte, was nicht unwahrscheinlich ist, dann enthielte der Koran weit weniger historische Informationen als allgemein angenommen wird.