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Tagebuch eines Künstlers

Etliche Tagebücher über sich, seine Gedanken und sein Schaffen hat der Autor Paul Nizon vollgeschrieben - und anschließend als Journal veröffentlicht. Vier dieser Bände liegen jetzt vor, jeder umfasst ein Jahrzehnt. Der aktuelle Band "Die Zettel des Kuriers" enthält das Geschehen der Neunziger: Im unbeschwerten Plauderton gibt Nizon Einblick in sein Leben.

Von Matthias Kußmann |
    "Ästhetische Existenz" - den Begriff bringt man vor allem mit der Zeit um 1900 in Verbindung; mit Avantgarden, die gegen Bürger rebellierten; und mit Autoren, denen Literatur und Schönheit über alles gingen - die nicht nur schrieben, sondern "literarisch" lebten. Das mag veraltet klingen - zumal manche Schriftsteller heute eher wie Manager - auch ihrer selbst - wirken.

    Gut, dass es da noch ein paar große alte Autoren gibt, die praktisch mit ihrem Werk identisch sind, auf Gedeih und Verderb an Schreiben und Nicht-Schreiben gekettet. Einer von ihnen ist der Schweizer Paul Nizon, geboren 1929. Er schreibt eine sinnliche, lebendige Prosa - vor allem Romane und Erzählungen - und lebt in der Stadt ästhetischer Existenz schlechthin: in Paris.

    Ich fand keine andere Alternative als das "Künstlerleben", wenn man darunter so etwas wie die unumschränkte Individuation verstehen will, das selbstverantwortete, exploratorische Lebensunternehmen. In meinen Texten geht es ja immer um die Herbeiführung eines Entbrennens, von Momenten eines vollen Inneseins und wohl auch Im-Einklangseins, eines Ausfüllens meines Platzes auf Erden.

    Eine Passage aus seinem neuen Buch "Die Zettel des Kuriers. Journal 1990-1999". Seit fast 50 Jahren macht er diese tagebuchartigen Notizen; es entstehen etwa 3000 Seiten im Jahr:

    Die waren nicht für eine spätere Veröffentlichung bestimmt, sondern so etwas wie Dampf-Ablassen. Wie ein Klavierspieler sich hinsetzt und spielt, so hab ich jeden Tag vor oder nach der Romanschreiberei aufgezeichnet, was mir passiert ist, durch den Kopf ging, usw. Lange Zeit hatte ich nur unendliche Stöße von Aufgezeichnetem. Eines Tages hat mir jemand gesagt, ich sollte es zumindest fotokopieren.

    Nizon kopierte und erkannte, dass Teile der Notate veritable Seitenstücke seiner literarischen Texte sind. So erschienen bislang drei Bände mit Journalen, die jeweils ein Jahrzehnt seines Lebens und Schreibens begleiten - die sechziger, siebziger und achtziger Jahre. Jetzt also ist ein vierter hinzugekommen, über die Neunziger. Auch hier traf Nizon die Auswahl nicht allein; ihm half der befreundete Journalist Wend Kässens:

    "Wenn man selber dieser Riesenmasse von Aufgezeichnetem und weit Zurückliegendem gegenübersitzt, verliert man sich in einem Irrgarten. Es braucht den kühlen Blick eines Außenstehenden."

    Die Texte sollten weitgehend authentisch bleiben und wurden für den Druck nur wenig verändert:

    "Viel kann man nicht machen. Vor allem die Schreibe, die ist ja historisch. Wenn ich ein Journal aus den sechziger Jahren bearbeite, ist der Schreibende nicht mehr der Schreibende, der ich heute bin. Man kann eigentlich nur eliminieren, rausstreichen."

    Bedenkt man, dass die schnell geschriebenen Texte - "hingerattert", sagt Nizon - kaum redigiert wurden, beeindruckt ihre literarische Qualität um so mehr. Einige hat er denn auch fast eins zu eins in Romane übernommen.

    Im vorliegenden Band gibt es etwa die Beschreibung einer jungen Frau in einem Pariser Stadtbus. Nizon beobachtet die unbekannte Schöne, die vor ihm sitzt. Hier ein Ausschnitt:

    So viel Interesse ist wohl schwer zu verkraften, darum schließen Sie jetzt auch die Augen und geben vor, zu entschlummern. Ein netter Einfall, ich fasse es als Kompliment auf. Ihr Gesicht liegt nun wie ein Angebot auf dem Teller meiner Verehrung, es ist auch eine Spur Preisgabe in dieser List: Mach weiter. Ich frage mich die ganze Zeit, ob Sie verstehen, was ich Ihnen in Gedanken sage. Ich glaube: ja.

    Die Sätze tauchen später im Roman "Hund. Beichte am Mittag" wieder auf. Solche Passagen scheinen Nizon leicht zu fallen - dennoch dauert es jedes Mal quälend lang, bis ein neues Buch fertig ist. Dann retten ihn die Journale über die Zeit, in der die Arbeit stockt, in der er Stoffe "inkubiert", wie er sagt. So lässt sich im Journal die schwierige Entstehung des "Hund"-Romans verfolgen, der von einem Pariser Clochard erzählt - mit einigen autobiografischen Zügen. Das Projekt wird erstmals im Februar 1992 erwähnt:

    Es arbeitet mehr als fühlbar in mir, das Buch, ich höre die Sätze knirschen.

    Ein Jahr später jubelt der Autor:

    Habe wirklich das Hundebuch auf die Schienen gebracht oder gesetzt!

    Doch wie so oft bei Nizon dauert es länger. Der Fluss versiegt, der Autor muss "warten" - ein zentraler Begiff seiner Poetik. Der Roman erscheint erst sechs Jahre später, 1998.

    In "Die Zettel des Kuriers" geht es ums Schreiben, um poetologische Fragen und Lektüren, um Begegnungen mit Kollegen, Kunst und Musik, um Gänge durch das geliebte, immer wieder beschworene Paris - aber auch um Privates, die eigene Ehe und späte Vaterschaft. Intime Einblicke gibt es freilich nicht, auch keine alltäglichen Nichtigkeiten à la Thomas Mann. Dennoch heißt es in einer poetologischen Notiz:

    Ich plädiere gegen die Handlung für das Gewebe, für das ich nur das Wort ALLTAG verwenden kann (als Oberbegriff oder Leitmotiv).

    Wobei "Alltag" die Summe dessen bedeutet, was ein Mensch an einem Tag erlebt - etwa wie bei Joyce, der im "Ulysses" auf tausend Seiten einen einzigen Tag beschreibt. Diesen "Alltag" will Nizon aber nicht intellektuell sezieren, sondern sichtbar, hörbar, fühlbar machen:

    "Weil ich davon ausgehe, dass das Geheimnis oder das Dunkel nicht aufzuhellen ist und auch nicht letztlich aufgehellt werden soll, weil es sonst die vibrierende Ganzheit verliert. Natürlich kann man sich dem - ich möchte nicht sagen - "Sinn" oder der "Bedeutung" des Geschehens nähern, aber wichtiger ist mir, das Geschehen in seiner Vielfalt oder auch Dunkelheit oder Dämmerung sprachlich wiedergeben zu können und auf-leben zu lassen. Das Wort der Verlebendigung durch die Sprache und das lebendige Näherbringen ist für mich ein zentrales Anliegen."

    Das gelingt Nizon in seinen sinnlichen, Romanen und Erzählungen - wie auch in den Journalen, die man seinem literarischen Werk durchaus zur Seite stellen kann. Weil sie es kommentieren und erklären - und weil sie oft selbst Literatur sind.

    Paul Nizon: Die Zettel des Kuriers. Journal 1990-1999
    Hrsg. von Wend Kässens
    Suhrkamp Verlag, 240 Seiten, 24,80 Euro