In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen voluminöse 4920 Gramm auf die Waage: zusammen 3718 Seiten.
Platz zehn: Dörte Hansen: "Altes Land" " (Knaus, 287 S. 19,99 €)
Dieses Buch ist ein Phänomen. Warum steht eine späte Debütantin seit über einem Jahr auf einem Spitzenplatz der meistverkauften Romane hierzulande? Sicher auch, weil Dörte Hansen moderne Heimatliteratur schreibt, den Zurück-zur-Natur-Trend bedient und ihr die prekäre Gratwanderung zwischen Familiengeschichte und Landlust-Satire gelingt. Letztlich überzeugt mich an "Altes Land" aber das Erzähltalent und die psychologische Raffinesse Dörte Hansens.
Platz neun: Jojo Moyes: "Ein ganz neues Leben" (Wunderlich, 521 S. 19,95 €)
In ein "Ein ganzes halbes Jahr" schrieb Jojo Moyes eine zeitgenössische Neuauflage der "Love Story", die naturgemäß mit dem Tod eines der Liebenden enden mußte. Die noch kruder, noch tränenmelkerischer erzählte Fortsetzung, in der Lou den Rettungssanitäter Sam kennenlernt und am Ende von London nach New York geht, markiert mit ihrer keine Phrase ausweichenden Stammelsprache, ihrem Romankosmos ohne einem Fünklein Witz oder Geist und ihrem Ausbuchstabieren jedes Gefühls eine Zumutung. Wenn es so etwas wie Kohlmief in Romanform gibt, dann hier.
Platz acht: Nicholas Sparks: "Wenn du mich siehst" (Deutsch von Astrid Finke, Heyne, 575 S., 19,99€)
Alle diese Vorwürfe passen übrigens auch auf diesen Schundroman um das Liebespaar Maria und Colin in den USA. Kleine Kostprobe vom Ende:
"Das Einzige, was Maria mit Sicherheit wusste, war, dass Lester und Dr. Manning beide tot waren und sie vor keinem jemals mehr Angst haben musste. Ein Kind, das bei einem Autounfall starb, eine ältere Schwester, die getötet wurde, eine an Depressionen leidende Mutter, die Selbstmord beging – was wäre wohl aus ihr selbst geworden, wenn ihr all das zugestoßen (… ) wäre?"
Ja, liebe Leser, genau dasselbe wäre aus Maria geworden wie aus uns: ein gelangweilter und von der Geistlosigkeit dieser amerikanischen Schwammkopfprosa schwer enervierter Mensch.
Platz sieben: Volker Klüpfel, Michael Kobr: In der ersten Reihe sieht man Meer (Droemer, 320 S., 19,99€)
Dies ist nicht die x-te Kommissar Kluftinger-Fortsetzung, das Autorenduo Klüpfel-Kobr hat sich für diese Rückschau auf Adriaurlaube in den 80er Jahren einen originellen Zeitreise-Kniff einfallen lassen. Doch Vorsicht: der Treibstoff dieser Erzählrakete besteht aus Italianita und reiner Nostalgie – mit der einen oder anderen Verpuffung muss da schon gerechnet werden.
Platz sechs: Jan Weiler: Im Reich der Pubertiere (Kindler, 165 S, 12 €)
Die Genialität dieser Kolumne erweist sich in den schlagenden Sprachbildern, die Jan Weiler immer wieder gelingen. Etwa wenn der Vater zweier Kinder eine "Große Halle der vergangenen Leidenschaften" imaginiert, in der Cro neben Bill Kaulitz sitzt oder Hannah Montana neben Prinzessin Mononoke. Warum es schwer ist, heute jung zu sein, weiß Weiler auch: weil sich viele Erwachsene heute wie Kinder betragen.
Platz fünf: Benedikt Wells: "Vom Ende der Einsamkeit" (Diogenes, 355 S., 22 €)
Zunächst dachte ich: das ist der beste John-Irving-Roman, der nicht von John Irving stammt. So melodramatisch sich der Plot anhört - es geht um drei Geschwister, die im Teenageralter erst ihre Eltern durch einen Autounfall verlieren und während ihrer Internatszeit sich selbst -, so sorgfältig konstruiert Wells seinen über drei Jahrzehnte spielende Familienaufstellung, entwirft glaubhafte Charaktere mit psychologisch faszinierenden Liebesbiographien und unvergeßliche Bilder wie das eines im Eis eingefrorenen Fuchses. Benedikt Wells ist ein Hammer von einem Familienroman gelungen.
Platz vier: Heinz Strunk: "Der goldene Handschuh" (Rowohlt, 253 S.19,95) :
Maxim Gorkis "Nachtasyl", Ferdinand Celines "Reise ans Ende der Nacht" und Bret Easton Ellis "American Psycho" heißen die Verwandten dieser grandiosen Flaschenpost aus der Hölle über das Leben des Hamburger Frauenmörders Fritz Honka. Noch nie habe ich über unbeschreibliches Elend so lachen können.
Platz drei: Juli Zeh: "Unterleuten" (Luchterhand, 640 S., 24,99 €)
In ihrem vielstimmigen Gesellschaftsroman erzählt Juli Zeh von der Wende und der Erngiewende, ein Windpark läßt in einem Dorf in Brandenburg alte Konflikte aufbrechen: Wendegewinner gegen Wendeverlierer, Ossis gegen Wessis, Mann gegen Frau, Alt gegen Jung. Einer der Schlüsselsätze lautet: "es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Perspektiven". Genau so sieht sie aus: die Wahrheit großer Literatur.
Platz zwei: Elke Heidenreich: "Alles kein Zufall" (Hanser, 238 S., 19,90€)
Elke Heidenreich quasi als Instantpulver: liest man diese oft nur eine halbe Seite langen amüsanten und klug beobachteten, ja oft regelrecht weisen Kürzestgeschichten und Anekdoten, entsteht unter Zugabe unserer Aufmerksamkeit eine facettenreiche Persönlichkeit, deren Schlagfertigkeit und Wärme in Bann zieht. So lebendig wird Elke Heidenrich auf diesen Seiten, ich könnte mit diesem Buch jederzeit Krach kriegen.
Platz eins: Siegfried Lenz: "Der Überläufer" (Hoffmann & Campe, 364 S., 25 €)
Siegfried Lenz schrieb dieses Buch 1951, da war er 25 Jahre alt. Als Roman vermag diese Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg über einen aufrechten Soldaten namens Proska, der zur Roten Armee überläuft, in den letzten Kriegstagen seinen Schwager erschießt und in der sowjetischen Besatzungszone bald desillusioniert wird, heute kaum mehr zu faszinieren. Interessant an diesem Buch sind zwei Beobachtungen: erstens, wie wenig es Siegfried Lenz gelingt, die Ungeheuerlichkeiten der Verbrechen der Wehrmacht im Osten und des Holocausts in den Focus seines Textes zu bekommen. Und zweitens wie eng die Literatur Anfang der 50er Jahre mit dem Einsetzen des Kalten Kriegs am Gängelband der Politik geführt wurde. Wollen wir hoffen, dass heute die Spielräume weiter sind.