In der "klassischen" Musik ist es nicht gerade häufig, dass Komponisten "von der Gitarre" her kommen, ihr Hauptinstrument also die Gitarre ist. Héctor Berlioz war so einer, Steven Mackey heißt ein anderer. Ab seinem 13. Lebensjahr wuchs der im damaligen Hippie-Mekka Kalifornien zwischen zwei deutlich älteren Brüdern auf, deren Drogenexperimente er mit musikalischen Experimenten auf der Elektrogitarre untermalte. Heute bekennt er: "Alles, was ich nicht meiner Erziehung zur Last lege, schiebe ich auf die Gitarre. Ich denke immer, dass ich mich besser in die Institutionen und Protokolle der klassischen Musik einfügen würde, wenn ich ein "richtiges" Instrument spielen würde. In meinem Denken arbeite ich in der Tradition Mozarts und Strawinskys und beschäftige mich mit allem, was reine Konzertmusik sein kann. Aber meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind von der Tatsache geprägt, dass der Klang der E-Gitarre für mich wie Muttermilch ist, und ihr ikonoklastisches Milieu, halbwegs zwischen avantgardistischem Experiment und libidogesteuerter Umgangssprache angesiedelt, war meine höhere Schule." * Musikbeispiel: Steven Mackey - Teil 1 Anthem/Hymne aus: "Tuck and Roll" (Lederpolster) So beginnt der erste Satz von "Lederpolster", einem viersätzigen Konzert für E-Gitarre und Sinfonieorchester des amerikanischen Komponisten Steven Mackey, der in dieser neuen Aufnahme mit dem New World Symphony Orchester auch den Solopart spielt. Der Titel nimmt Bezug auf die pralle Lederpolsterung riesiger amerikanischer Straßenkreuzer, wie sie vor der Ölkrise von 1973 gebaut wurden. Und typisch amerikanisch an Mackeys Musik ist auch der völlig unbekümmerte Umgang mit allen möglichen Materialien der musikalischen Tradition, mögen sie aus der sogenannten E- oder U-Musik stammen, seien sie aus längst vergangenen Tagen, weit entfernten Kulturkreisen oder den Experimentierkästen der Neuen Musik. Mackey lässt alles miteinander reagieren, entwickelt eins aus dem anderen, stellt ebenso verblüffende Bezüge wie Kontraste her. Ein besonders anschauliches Beispiel für diesen Stilmix ist der zweite Satz der sinfonisch angelegten großen Suite mit dem Titel "Grünzeug essen". * Musikbeispiel: Steven Mackey - 2. Satz "Waffling/Quasseln aus: "Grünzeug essen" Steven Mackey ist natürlich nicht der einzige, der ohne Scheuklappen und Vorurteile für so altehrwürdige Institutionen wie Sinfonieorchester komponiert. Man denke nur an Musiker wie Uri Cane oder das Komponistenkollektiv "Bang on a Can", das sich z.B. vor etwas mehr als einem Jahr mit dem auf historischen Instrumenten spielenden Orchester Concerto Köln und dem RIAS Kammerchor zusammentat, um das Stück "Lost objects" zu realisieren. Kulturmanager erhoffen sich von solchen Projekten, dass sie der klassischen Abendveranstaltung in der Philharmonie neue, jüngere Hörerschichten erschließen und die weitgehend noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Konzertrituale im 21. Jahrhundert durch neue Formen ersetzt oder zumindest erweitert werden. Jung und vielversprechend ist auch das hier eingesetzte Orchester, die in Miami beheimatete New World Symphony, eine 1987 von Michael Tilson Thomas gegründete Orchesterakademie. Sie besteht aus 85 jungen, überdurchschnittlich begabten Absolventen der großen Musikhochschulen, die während eines dreijährigen - bei uns würde man sagen: Aufbaustudienganges - die Möglichkeit erhalten, das Gelernte in der Praxis anzuwenden. Um die Absolventen dieser Orchesterakademie reißen sich die großen amerikanischen und europäischen Orchester mittlerweile, und auf die jährlich in Miami freiwerdenden 35 Studienplätze bewerben sich inzwischen an die 800 Instrumentalisten. Die vorliegende CD zeigt erneut, mit welch großem Können und Engagement diese jungen Musiker zu Werke gehen. * Musikbeispiel: Steven Mackey - Anfang aus: "Lost and Found” Soweit ein Ausschnitt aus Steven Mackeys Stück "Lost and Found" - "Fundbüro", ein Titel, der als programmatisches Gesamtmotto über dem unkonventionellen Musikschaffen des Komponisten stehen könnte. Aber auch in einem anderen Sinne ist Steven Mackey ein unernster E-Musiker: Er scheint einen ausgeprägten Sinn für Humor zu haben. Viele seiner Kombinationen und Gegenüberstellungen sind bizarr und komisch, oft wird eine bestimmte Klangerwartung gerade nicht erfüllt, woanders finden sich Züge von Groteske und Parodie. Zumindest Lächeln stellt sich auch ein, wenn ein Chor keuchender, billiger Mundharmonikas dem edlen Klang vieler teurer Violinen beigemischt wird oder Posaune und Piccoloflöte sich mit gestimmten Kuhglocken unterhalten. Mackey liebt es, wenn der Rhythmus aus großem, revuehaften Schwung ins Stocken gerät und anfängt zu torkeln oder zu taumeln, wenn Melodien wie in Slapstick-Nummern anfangen zu stolpern oder gar hinzufallen. Insofern überrascht es nicht, wenn er sich als Bewunderer des Jazzpianisten Thelonious Monk zu erkennen gibt und erklärt: "Wenn ich höre, wie er über einige Leitern stolpert, die bei jemand anderem eine sauber ausgeführte, rhetorische Geste wäre, muss ich einfach lachen. Bei Monk ist das Stolpern das Wesentliche, nicht die Leiter. Es hat etwas Rührendes, aber auch Komplex-Ironisches, wenn man eine sentimentale Legato-Ballade in Monks komischem Stil hört, als hätte er zehn linke Daumen..." Der letzte Satz von Steve Mackeys Sinfonie "Grünzeug essen" ist eine Hommage an diesen Jazzpianisten und trägt den Titel "Drunk Monk". * Musikbeispiel: Steven Mackey - letzter Satz: 'Drunk Monk’ aus: "Grünzeug essen" Die Neue Platte - heute mit ungewöhnlicher sinfonischer Musik des amerikanischen Komponisten Steve Mackey, gespielt von der New World Symphony unter der Leitung von Michael Tilson Thomas. Die CD ist erschienen bei der Firma BMG.
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"Tuck and Roll - The music of Steven Mackey”
Heute geht es um Orchestermusik mit so ungewöhnlichen Titeln wie "Lederpolster", "Fundbüro" oder "Grünzeug essen". Sie stammt von dem 1956 geborenen amerikanischen Komponisten Steven Mackey, wird gespielt vom New World Symphony Orchester und der Dirigent der Aufnahme, Michael Tilson Thomas, charakterisiert diese Musik mit dem Wort "wacky", was soviel heißt wie "schräg, abgefahren".