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Türkei
Gezi lebt

Nach den lautstarken Protesten von 2013 ist es heute ruhig geworden auf dem Gezi-Platz in Istanbul. Viele Demonstranten von damals sind frustriert. Vor allem unter Kulturschaffenden aber lebt der "Geist von Gezi" weiter, zum Beispiel in der Ausstellung "Come if you dare".

Von Luise Sammann | 30.05.2014
    Demonstranten bei Protesten gegen die türkische Regierung auf dem Taksim-Platz in Istanbul, aufgenommen am 8.7.2013
    Vor allem Kreative glauben weiterhin an den Erfolg der Proteste auf dem Taksim-Platz. (picture-alliance / dpa / Ulas Yunus Tosun)
    Als nichts mehr ging, als Pessimisten schon das Wort Bürgerkrieg in den Mund nahmen und die Nachrichten von Polizeieinsätzen in Istanbul und Ankara zum Alltag geworden waren – da kam er: Mitten auf dem umkämpften Taksim-Platz stellte Davide Martello seinen Flügel auf, sorgte einmal mehr dafür, dass die türkischen Gezi-Proteste nicht nur als sozialer, sondern auch als kultureller Aufstand berühmt wurden.
    Das nächtliche Konzert war nicht das erste Beispiel für die Kreativität der Proteste. Von Anfang an begleiteten Karikaturen, Videos und Fotomontagen die Demonstrationen. Protestlieder wurden zum Sommer-Soundtrack, und allabendlich erklangen unzählige Pfannen und Töpfe in den Straßen Istanbuls.
    Ein Jahr ist seitdem vergangen. Die Kochtöpfe sind längst verstummt – viele der einstigen Demonstranten ebenfalls. Sie finden: 'Gezi ist gescheitert'. Unsinn, sagt Bedri Baykam – einer der bekanntesten Künstler der Türkei:
    "Egal, ob Gezi selbst vorbei ist oder nicht. Es hat längst seinen Platz in der Geschichte eingenommen. So eine Bewegung, die ein ganzes Land einen Monat lang durchschüttelt, die Massen auf die Straße treibt – Großmütter wie Enkelkinder, die vergisst man nicht so einfach."
    53 Künstler erinnern darin an die Proteste vom vergangenen Sommer
    "Gezi – Come if you dare" heißt die Istanbuler Ausstellung, zu deren Eröffnung Maler Baykam geladen hat. 53 Künstler erinnern darin an die Proteste vom vergangenen Sommer, zeigen von Tränengaskartuschen durchbohrte Skulpturen, blutrote Chaosbilder, Fotomontagen auf denen die Bäume des Gezi-Parks Gasmasken tragen. Baykam selbst hat Erdogan-Zitate auf einem kunterbunten Ölbild in Szene gesetzt.
    "Bei dieser Ausstellung hängen berühmte Künstler mit langen Biografien neben absoluten Newcomern. Wir sind alle gemeinsam vertreten, weil wir auch alle gemeinsam Teil der Proteste waren. Gezi war ein Erdbeben, ein Tsunami, der aber auch Sauerstoff in die Gehirne gespült hat. Diese Ausstellung spiegelt das wider."
    Knapp 100 Besucher sind zur Eröffnung gekommen. Zu Barrikaden aufgetürmte Schutthaufen versperren ihnen mitten in der kleinen Galerie den Weg, Slogans aus Gezi-Tagen kleben wie überdimensionale Sticker an den Wänden, bringen den oft makabren Humor von damals zurück: "Wissen Sie, das Schlimmste an der türkischen Gesellschaft ist ihre Vergesslichkeit",
    erklärt Denizhan Özer, Co-Kurator der Ausstellung.
    "Militärputsche, Unfälle, Skandale: Hier passiert so viel, aber die Leute vergessen es einfach, ziehen keine Lehren daraus. Deswegen wollten wir Künstler an Gezi erinnern, diesen wichtigen Einschnitt in der türkischen Demokratiebewegung."
    Heute wird der Taksim-Platz von riesigen Kameras überwacht
    Tatsächlich: Unendlich weit weg scheinen die Protestcamps und Barrikaden von damals. Heute wird der Taksim-Platz von riesigen Kameras überwacht, einstige Demonstranten müssen sich vor Gericht verantworten, kritische Journalisten sind arbeitslos.
    Doch der Protest der Kulturschaffenden geht weiter, nicht nur in der Ausstellung "Come if you dare". In einem Online-Video rufen bekannte türkische Künstler für morgen zu Protesten auf, der Dokumentarfilm "Gözdagi" erinnert an die Opfer von Tränengas und Polizeigewalt, mehr als 50 Bücher und Bildbände tragen Gezi auch weiter in türkische Wohnzimmer.
    Kein Wunder, dass die Regierung gerade gegen Kulturschaffende hart vorgeht, meint Autor Erol Özkoray, der selbst für sein Buch "Gezi Phenomenon" vor Gericht steht.
    "Erdogan denkt, wenn er uns mundtot machen oder einschüchtern kann, dann hat er die Massen unter Kontrolle. Aber unsere Aufgabe ist es genau deswegen, nicht aufzugeben. Wir werden nicht schweigen – auch wenn er uns ins Gefängnis steckt."