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Türkei
Islamisten gegen Erdogan

Sie nennen sich Islamisten, "antikapitalistische Muslime" und "Muslime gegen Faschismus": junge Türken, die sich um den Prediger Ihsan Eliacik sammeln. Er kritisiert die Regierung scharf und glaubt, er sei nur noch nicht in Haft, weil die Justiz als letztes Islamisten verhafte.

Von Susanne Güsten | 09.04.2018
    Hipper Laden in Istanbul
    Vielfalt in Istanbul: Säkulare in hippen Läden - aber auch "antikapitalistische Muslime" (AFP / Mustafa Ozer)
    In Balat wird gebaut, was das Zeug hält: Das alte Judenviertel am Goldenen Horn wird luxussaniert. Die Juden sind schon lange fort von hier, und in den letzten Jahren mussten auch die Kurden und Roma weichen, die sich in den alten Häusern niedergelassen hatten; in den pittoresken Gassen eröffnen nun neue Cafés, Boutiquehotels und Antiquitätenläden. Ein paar alteingesessene Einwohner sind aber noch da, darunter der islamische Prediger Ihsan Eliacik mit seinem kleinen Eigenverlag.
    Eliacik stört sich nicht an dem Krach, denn er ist meistens unterwegs im Land, um seine Botschaft zu verkünden. In letzter Zeit muss er auch oft zum Gericht, wo inzwischen sieben oder acht Strafverfahren gegen ihn laufen - wegen Beleidigung des Staatspräsidenten, wegen subversiver Äußerungen, Terrorpropaganda und ähnlicher Vorwürfe. Immerhin sitzt er bisher nicht in Untersuchungshaft wie so viele andere Regimekritiker - und er kann sich denken, warum:
    "Weil es in der Türkei keine funktionierende Justiz mehr gibt, richtet es sich nach politischen Gesichtspunkten, wer wann abgeholt wird. Weil wir aus dem islamistischen Spektrum stammen, kommen sie wohl erst zuletzt zu uns."
    "Der Islam gebietet es nicht, Tiere zu schlachten"
    Ihsan Eliacik nennt sich Islamist - aber er hat ganz andere Ansichten als Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierungspartei AKP, die den türkischen Islamismus nach außen hin verkörpern. Ein moderner Islam müsse die modernen Werte der Aufklärung, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte und Demokratie verinnerlichen, fordert Eliacik in seinen Vorträgen und Schriften. Das dekliniert er für den Alltag durch, so etwa für das rituelle Schlachten von Tieren zu freudigen Anlässen oder zum jährlichen Opferfest:
    "Der Islam gebietet es nicht, Tiere zu schlachten. Das jährliche Schlachten am Opferfest ist nur eine Tradition und keineswegs von Gott befohlen. Gott befiehlt nicht, Blut zu vergießen. Im Koran ist auch keine Rede vom Schlachten. Das alljährliche Schlachten von Millionen Tieren ist meiner Ansicht nach nicht im Sinne des Islams. Diese Ansicht vertrete ich offensiv und verteidige sie gegen allen Theologen."
    Eliacik versteht sich als kritischer Theologe - so kritisch, dass er sein Studium der islamischen Theologie abbrach, um alles in Frage zu stellen. Nur durch Zweifel komme man zur Erkenntnis, meint der Prediger. Und Zweifeln sei genau das, was bei der Regierungspartei und dem staatlichen Religionsamt nicht erlaubt sei.
    "Ihr Verständnis vom islamischen Glauben ist reaktionär. Sie vertreten einen unaufgeklärten Islam. Sie denken, sie leben den Islam, wenn sie wörtlich umsetzen, was vor vielen hundert Jahren geschrieben wurde."
    Kopftuchpflicht und Handabhacken?
    Damit könne die Regierung derzeit allerdings noch nicht so weit gehen, wie sie das eigentlich wolle, sagt Eliacik:
    "Wenn sie die Kopftuchpflicht einführen würden und Frauen nicht mehr mit unbedecktem Kopf aus dem Haus dürften, dann gäbe es einen Aufstand. Erst recht, wenn sie Dieben die Hand abhacken, die Vielehe erlauben und die Scharia einführen wollten - dafür sind die anderen Teile der türkischen Gesellschaft noch zu stark, als dass sie das durchsetzen könnten. Darum begnügen sie sich derzeit noch mit kleinen Schritten: den Muftis die Befugnis zu Trauungen zu geben, die Religion an den Schulen auszubauen, und so weiter."
    Das ändere aber nichts an der Absicht der AKP, irgendwann die Scharia einzuführen, glaubt der kritische Islamist:
    "Wenn konservative Islamisten die Macht bekommen, dann endet das auf Dauer zwangsläufig in einer religiösen Diktatur. Zwangsläufig. Denn so steht es in den Schriften. Es geht darum, die Macht zu erobern und eine religiöse Hegemonie zu errichten, alle Andersdenkenden zu bestrafen und wortwörtlich umzusetzen, was vor tausend Jahren im Koran geschrieben wurde. So verstehen sie den Islam, und das ist die Gefahr. Wenn sie nur genug Macht bekommen, dann werden sie dasselbe tun wie der IS."
    "Wir haben in der Türkei ein totalitäres Regime"
    Starke Worte sind das, und die Regierung hört sie nicht gerne. Im Fernsehen hat Eliacik schon lange Auftrittsverbot, und auch öffentliche Veranstaltungen werden immer schwieriger. Mit Buchlesungen tingelt der Theologe durchs Land, doch mehrfach sind sie schon verboten oder verhindert worden.
    In seiner Heimatstadt Kayseri wurde dem Verfasser von 26 Büchern kürzlich der Zugang zur Buchmesse verwehrt - auf Anordnung vom Oberbürgermeister, der ihn von einem Trupp städtischer Angestellter gewaltsam hinauswerfen ließ. Von Meinungs- oder Religionsfreiheit könne in der Türkei auch für Muslime keine Rede mehr sein, sagt Eliacik.
    "Wir haben in der Türkei heute ein totalitäres und autoritäres Regime. Die mögen es nicht, wenn man sie kritisiert, und nutzen die kleinste Gelegenheit, Kritiker zu bestrafen und einzusperren. Deshalb gibt es auch keine Religionsfreiheit: Frei ist nur noch die Interpretation des Glaubens, die dem Regime nützt. Alle anderen Auffassungen vom Glauben werden zum Verrat erklärt."
    "Das Regime versucht, Kapitalismus religiös zu legitimieren"
    Dennoch steht Eliacik nicht alleine mit seinen Ansichten. Hunderttausende Anhänger folgen ihm in den sozialen Medien, wo er seine Ansichten verbreitet - auf Facebook und Twitter sind es jeweils rund 350.000. Eine kleinere Schar von Getreuen findet sich wöchentlich zu seinen Seminaren in Balat ein, bei denen er Systemkritik predigt.
    "Wir bezeichnen die seit 16 Jahren andauernde AKP-Regierungszeit als Ära des 'rituell gewaschenen Kapitalismus‘. Dieses Regime versucht, den Kapitalismus religiös zu legitimieren, indem es sagt, Muslime sollten auch reich sein, Fabriken besitzen, in Villen wohnen. Dabei ist es mit dem wahren Islam nicht vereinbar, mehr zu besitzen, als man braucht."
    "Antikapitalistische Muslime" nennen sich seine Anhänger deshalb - vorwiegend junge Leute, die bei Menschenrechts- und Gewerkschaftsdemonstrationen unter einem schwarzen Banner mit dieser Aufschrift marschieren. In jüngster Zeit reiche es aber nicht mehr, antikapitalistisch zu sein, sagt Eliacik:
    "Mit dem Krieg in Afrin sind in der Türkei faschistische Tendenzen aufgekommen. So wie Hitler aus Deutschland die Welt erobern wollte, so will dieses Regime für die Türken und Muslime das Osmanische Reich wieder auferstehen lassen und die von den Osmanen verlorenen Gebiete zurück erobern. Wir sind strikt dagegen. Wir halten es für Gotteslästerung, die Welt beherrschen zu wollen, denn die Welt gehört nur dem Schöpfer. Deshalb sind wir nun auch antifaschistische Muslime geworden - Muslime gegen den Faschismus."