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Über die Ära des Alterns

Wir werden nicht nur immer älter, sondern bleiben im Alter auch immer gesünder und wacher. Wie gehen wir mit dem neuen Phänomen, mit der nicht zu eliminierenden Todesnähe um? Die Ausstellung "Ein Leben lang" der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin zeigt künstlerische Positionen, die Bilder und Vorstellungen vom Alter hinterfragen.

Von Carsten Probst | 31.07.2008
    Dass das Altern nicht erst im Alter beginnt, ist zwar eine Binsenweisheit, was aber nicht verhindert, dass sie irgendwann mit ganz konkreten Fakten auftaucht. Auch in der ach so toleranten und pluralistischen Gesellschaft gelten im Zweifel knallharte Zuordnungen - vor allem, wenn etwa gerade wieder einmal über demografischen Wandel und Generationengerechtigkeit debattiert wird.

    Wer altert, macht sich verdächtig - man liegt dem Sozialsystem auf der Tasche, man stellt absurde Ansprüche an Lebensqualität, die den Jungen, die sich noch anstrengen müssen, völlig weltfremd erscheinen. Wer soll soviel Zeit und Geld haben?

    Insofern mag es durchaus konsequent sein, dass sich die Berliner Ausstellung weniger mit den Bedingungen des Altseins selbst auseinandersetzt, als mit den Zeichen, der sozialen Ikonografie, nach der unsere Gesellschaft Alter beurteilt und einordnet. Denn diese Zeichen liest man auch an sich selbst, und die Beurteilungen des eigenen Alters spiegeln die mehr oder weniger offen ausgesprochenen Ansichten des eigenen Umfeldes.

    Wie lebt es sich zum Beispiel in einer sogenannten Gated Community für Senioren - jenen gepflegten Wohnsiedlungen also, in denen vergleichsweise betuchte Senioren in Eigenheimen ihren Lebensabend verbringen, mit einem speziell auf sie zugeschnittenen Freizeit- und Fitnessprogramm und ohne lauten und gefährlichen Straßenverkehr, umgeben von lauter Nachbarn ähnlichen Alters, die genauso wie man selbst weiß, was es heißt, alt geworden zu sein. Es gibt Berichte, wonach Einwohner dieser Siedlungen, die bislang vor allem in den USA verbreitet sind, wieder ausziehen, weil sie es nicht mehr aushalten mit soviel Altersgerechtigkeit und sich wie im Ghetto fühlten.

    Die Bilder des Fotografen Peter Granser, der das Leben in solchen Communitys recherchiert hat, zeigen dagegen eine zwar leicht absurde, aber im Grunde fröhliche Welt, in der die Alten das haben, was sie eigentlich am meisten zu brauchen scheinen: Narrenfreiheit - die Freiheit, den eigenen Träumen von verflossener Jugend, Schönheit und Gesundheit nachzuhängen, den ein oder anderen derben Witz zu reißen und über alte Zeiten zu plaudern und ansonsten seine Ruhe zu haben - und vor allem: immer ein offenes Ohr für die mehr oder weniger ernsten Zipperlein zu finden. Gansers Altensiedlungen zeigen eine Welt, wie die Welt normalerweise eben nicht ist, eine Unschuld des Altwerdens, die freilich die große Mehrheit jener beklommen machen muss, die sie sich niemals werden leisten können.

    Die noch immer zu wenig beachtete Künstlerin Annegret Soltau ist in dieser Ausstellung mit einer sogenannten "Fotovernähung" zu sehen, bei der sie fotografisch die eigenen Körperteile mit denen ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Tochter vertauscht, ein Generationenbild, das eindringlich die Relativität von Altersmerkmalen vor Augen führt, wenn man vor dem großformatigen Bild steht und versucht herauszufinden, welche Mund-, Augen- Brust- oder Beinpartie authentisch ist und welche bildlich transplantiert wurde.

    Ohnehin fokussiert sich das Altern in dieser von einem fünfköpfigen Team kuratierten Ausstellung auffällig oft in Bildern von oder über Frauen. Die Lettin Evelina Deicmane reflektiert auf das Leben ihrer Großmutter zwischen traditioneller lettischer Folklore und dem Sozialismus des Kalten Kriegs. Die japanische Medienkünstlerin Miwa Yanagi lässt in einer digital inszeniert Fotografie eine alte Frau ihren eigenen jugendlichen Wunschkörper für die Nachwelt modellieren.

    Ein explizit männliches, aber keinesfalls nur Männern vorbehaltenes Schicksal liefert hingegen die Vitrine mit der Merkzettelsammlung eines gewissen, an Demenz erkrankten Herrn S. - ein Zufallspanorama, das den Verfall der Welt mit den Augen des geistigen Verdämmerns spiegelt. Mit wahrhaft beckettscher Klarheit hat jener Herr S. diesen Prozess aber schließlich noch selbst auf einem seiner Zettel vor dem Vergessen gerettet:

    "Vier Abschnitte des menschlichen Lebens:
    1.) Du vergisst die Namen.
    2.) Du vergisst die Gesichter.
    3.) Du vergisst, die Hose zu schließen.
    4.) Du vergisst, die Hose zu öffnen."