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Unendliche Ausdehnung
Wie die Fußball-WM unser Zeitgefühl verändert

Da die WM-Spiele in die späten Abendstunden fallen, führen Verlängerungen zu einer gesamtgesellschaftlichen Übermüdung, wie man sie seit dem Fall der Mauer nicht mehr erlebt hat, analysiert Burkhard Müller Ullrich augenzwinkernd. Die Zeit sei aus den Fugen geraten.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 04.07.2014
    Das Leben ist bekanntlich kurz, aber es gibt Dinge darin, die kommen einem lang vor: Schulstunden zum Beispiel, die Beine von Heidi Klum oder eine Glosse ohne zündende Pointen. Und das hängt ja kausal zusammen: Weil die Lebenszeit so knapp bemessen ist, lösen langsame und langwierige Vorgänge solches Unbehagen aus. Wir hassen Warten. Zweimal 45 Minuten auf ein Ergebnis warten – das ist schon kaum auszuhalten. Aber noch mehr hassen wir Verlängerungen, die ja jetzt zum festen Bestandteil von Fußballspielen werden. Wahrscheinlich wird diese WM gar nicht am übernächsten Sonntag enden, sondern dank zahlloser Verlängerungen nahtlos in die Spiele der Champions League oder den nächsten Europacup übergehen. Im Jahr 2014 hat sich der Fußball vom Ereignis zum Zustand gewandelt und ist in die Dimension der Ewigkeit eingetreten: vita brevis, ars longa, wie Seneca unter Berufung auf Hippokrates sagte. John Cage hat ein Orgelwerk komponiert, dessen Aufführung im Halberstädter Dom 639 Jahre dauern soll. Diese Fußball-WM gibt einen Vorgeschmack davon.
    Davon sind übrigens auch Menschen betroffen, die sich für Fußball überhaupt nicht interessieren. Denn die Durchdringungsquote des Fan-Fiebers im Volk befindet sich mittlerweile auf einem solchen Level, dass es selbst für große Eigenbrötler nahezu unmöglich ist, das globale Gewese um die Kickerei zu ignorieren. Der öffentliche Raum ist mit Winkelementen und Zugehörigkeitssignalen gesättigt, ein epidemisches Raunen dringt bis in die privatesten Gemächer vor, der Geist ist 24/7 von Taktiken und Torverhältnissen okkupiert. Kurz gesagt, man kann während der Spiele einfach nichts anderes machen, und wegen der Überlänge der Spiele kommt man zu gar nichts mehr.
    Was jetzt noch fehlt, sind die Apostel der Entschleunigung
    Da die Spiele wegen des westlichen Austragungsortes bei uns oft in die späten Abendstunden fallen, führen Verlängerungen zu einer gesamtgesellschaftlichen Übermüdung, wie man sie seit dem Fall der Mauer nicht mehr erlebt hat. Das Elf-Meter-Wachbleiben hat schon in der Vorrunde und im Achtelfinale mehr Schlafstörungen und Daseinsverwirrung angerichtet, als der Sommerzeitwechsel seit seiner Einführung. Die Zeit ist aus den Fugen, und ganz Europa befindet sich in einer Art Verlängerungspsychose mit der Folge weitgehender Unzurechnungsfähigkeit.
    Was jetzt noch fehlt, sind die Apostel der Entschleunigung. Das alte Schlagwort der Zivilisationskritik könnte ja auch beim neuen Endlosfußball zum Einsatz kommen. Aber ist Entschleunigung nicht bloß eine hübsche Entschuldigung für die, die sowieso ein bisschen langsam sind? Und Verlängerung ist ein anderes Wort für Scheitern.