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Unerkundbar, undurchschaubar

"Die größere Hoffnung" war ihr erster Roman, der 1948 erschien. Damals noch unbekannt, kennt man Ilse Aichinger heute als Autorin mit ganz eigenem Ton und innerer Weisheit. Die gebürtige Wienerin wird 90 Jahre alt.

Von Anja Hirsch | 01.11.2011
    Das Eigentliche des Traumes ist nicht sein Inhalt, sondern das Licht, in dem er geträumt wird. Dieses Licht bleibt, wenn man erwacht.

    Liest man Ilse Aichinger, ihren einzigen Roman "Die größere Hoffnung", Erzählungen wie "Der Gefesselte" oder die berühmte "Spiegelgeschichte", liest man ihre Dialoge, Lyrik oder Notate, wie sie der Band "Kleist, Moos, Fasane" versammelt, so bleibt vor allem dieses Licht, als hätte man geträumt, nicht gelesen. Zugleich ist die Wirklichkeit in einer Schärfe präsent, die geradezu schneidet. Ilse Aichinger ist 27, als 1948 ihr erster und einziger Roman erscheint, "Die größere Hoffnung". Er verstört in einer Zeit, da man noch nicht über die Verbrechen der Nazis spricht. Der Roman verstört - aber er verzaubert auch, weil er von einem Mädchen namens Ellen erzählt, das über besondere Kräfte verfügt. Ellen, nach dem Tod der Großmutter allein, ist von ergreifender Hellsichtigkeit. Als sie in diesen schwarzen Zeiten einmal verhaftet und verhört wird, bringt sie den Oberst mit sturem Schweigen zur Weißglut. Und wenn sie doch antwortet, klingt es frech. Dabei ist es die einzige Antwort, die sie mit Sicherheit geben kann:

    "Geboren?"
    "Ja", sagte Ellen.
    Einer der Männer gab ihr eine Ohrfeige. Ellen sah erstaunt an ihm hinauf. Er hatte einen schwarzen Schnurrbart und ein ängstliches Gesicht.


    In dieser frühen Prosa wird der Grundstein gelegt. Die Sprache, der Satz, jedes einzelne Wort ist bei Ilse Aichinger unbedingt ernst zu nehmen. Hinter ihm tut sich ein Bedeutungsgebirge auf, das geradewegs in das zerklüftete Innere eines ungeschützten, sich eingrenzen müssenden Ichs führt. Trümmerliteratur, Kahlschlagliteratur - das waren die notdürftig gezimmerten Begriffe, mit denen man damals zu fassen versuchte, was in Texten so kurz nach dem Krieg gerade geschah. Nichts davon passte auf Ilse Aichinger. Als sie im gleichen Jahr wie Ingeborg Bachmann 1951 zum ersten Mal an einem Treffen der Gruppe 47 teilnimmt, ist schnell zu merken, dass hier zwei Autorinnen lesen, die eine andere Ästhetik, einen anderen Literaturbegriff, einen ganz und gar im Abgrund eigener Erfahrungen verankerten Ton einbringen.

    "Wo bist du zu Hause?" sagte ein dicker Polizist und beugte sich zu ihr herab.
    "Wo ich gewohnt habe", sagte Ellen, "war ich noch nie zu Hause."
    "Wo bist du dann zu Hause?" wiederholte der Polizist.
    "Wo Sie zu Hause sind", sagte Ellen.
    "Aber wo sind wir zu Hause?" schrie der Oberst außer sich.
    "Sie fragen jetzt richtig", sagte Ellen leise.


    Nach Würdigungen zu Ilse Aichingers früheren Geburtstagen schien viel gesagt, viel publiziert – bei S. Fischer beispielsweise 1990 ein Materialienband sowie von Stefan Moses ein wunderschöner Text-Foto-Band, der die Autorin oft herzlich lachend zeigt, neben ihrer Zwillingsschwester, allein am Küchentisch schreibend unter einem Vogelkäfig oder lesend im Wiener Café Demel vor edlem Wandbehang und Kronleuchtern. Jetzt gibt es sie gleich zweimal akustisch zu entdecken: der Hörbuch-Verlag "speak low" porträtiert sie auf einer CD wie erst im vergangenen Jahr Nelly Sachs. Und der kleine österreichische Verlag Edition Korrespondenzen bringt wie einen Entwicklungsroman gedruckte Interviews von 1952 bis 2005 nebst einer CD, die vier ausgewählte Gespräche enthält. Vor allem die frühen Interviews spiegeln, was in ihrer Literatur angelegt ist: Bedächtigkeit beim Abwägen der Antwort. Das Gespräch mit Alfred Holzinger aus dem Jahr 1960 wirkt fast wie ein Stück von Loriot.

    "- Und jetzt sind dann die Erzählungen entstanden. Das sind meistens kurze Stücke. Wie entstehen diese Erzählungen, etwa "Die Maus" oder "Der Gefesselte"? Ist es eine allgemeine Stimmung, die sie dazu treibt? Irgendein Bild?
    - Sätze.
    - Sätze. Und aus diesen Sätzen bilden sich dann längere Passagen, die Sätze wuchern, wachsen weiter.
    - Wuchern tun sie nicht. Es wär ganz gut, wenn sie mehr wuchern würden.
    - Sie schreiben verhältnismäßig wenig.
    - Ja."

    Als junge Preisträgerin der Gruppe 47 ist Ilse Aichinger gefragt, doch unter Journalisten als Schweigerin gefürchtet. Biografisches gibt sie ungern preis. Gerne übernimmt sie das ihr zugespielte Stichwort.

    "- Und dann haben sie geheiratet
    - Ja
    - Und sind mit Günter Eich ins Bayerische gezogen
    - Ja, er hat schon dort gewohnt, und
    - Ja, er ist ja aus der Odergegend.
    - Ja, er ist ja aus der Odergegend, aber er hat schon in Bayern gewohnt damals, in Niederbayern.
    - Und sie sind jetzt auch Mutter und Hausfrau.
    - Ja, wenn man das so sagen kann. Ich hoffe.
    - Sie haben zwei Kinder.
    - Zwei.
    - Ein Bub und ein Mädel.
    - Ja.
    - Und die gehen schon zur Schule.
    - Ja, alle beide.
    - Können Sie uns nicht etwas erzählen von den Kindern.
    - Ja, dass sie sechs und neun sind und - (lange Pause) - sehr bayerisch.
    - Sehr bayerisch.
    - Ja (lacht)."

    Gerade mal eine Handvoll Interviews mit Ilse Aichinger finden sich in 30 Jahren - gut fünfzig Gespräche, gedruckt oder gesendet, hat da schon ihre literarische Weggefährtin Ingeborg Bachmann. Und doch liegt Ilse Aichinger die dialogische Form, werden ihre Antworten länger, dringend, genau. Erich Boetticher, der sie 1952 trifft, beschreibt sie so:

    Wenn sie lächelt, strahlt ihr Wesen mädchenhafte Unbekümmertheit aus. Wird sie ernst, nimmt das von prägnanten Backenknochen bestimmte Gesicht einen meditierend abwesenden Ausdruck an und gleicht plötzlich dem Bild der dichtenden Nonne Therese von Avila im Prado-Museum zu Madrid. Sobald aber diskutiert wird, blitzen die Augen, die eben noch träumten, in der Freude am Wortgefecht auf. Gedanken, die noch kein Mensch dachte, fallen ihr zu wie dem Zigeuner die Melodien.

    Wer ist Ilse Aichinger, die am 1. November 1921 in Wien geboren wird? Der Vater ist Lehrer, die Mutter ist Ärztin, eine Jüdin. Die Ehe wird früh geschieden, Ilse wächst bei der Mutter und der Großmutter auf. Im Krieg kann die Zwillingsschwester Helga nach Großbritannien flüchten. Ilse bleibt - als sogenannte Halbarierin kann sie die Mutter schützen, beide überleben. Verwandte aber werden deportiert. Das Warten, das Ausharren, die Trauer hinterlassen ihren Abdruck in Aichingers erstem Roman "Die größere Hoffnung", für den sie das Medizinstudium abbricht. Er erzählt von dem Mädchen Ellen, das allerorts ihr Ausgeschlossensein erfährt. Im Spiel mit anderen Kindern verwandelt Ellen das graue Leben in lichte Geschichten, in denen der gelbe Stern nicht Todesdrohung, sondern Erlösung bedeutet. Wie Traumfiguren, leicht umzupusten, aber doch da, stellen sie sich gegen die Realität, auf verlassenen Speichern, in staubigen Kammern, auf dem Friedhof.

    "Ich wollte aber den Bericht schreiben über das, was geschehen ist, nicht mehr, ein Bericht, sonst nichts."

    Ellens Tod am Ende nimmt nur eine Zeile ein. Darüber erhebt sich ein irisierendes Spiel mit schwerelosen Szenen und kühnen Sätzen und rätselhaften Begegnungen. Viele davon bilden die Ohnmacht ab und treten zugleich dagegen an. Bis heute bewegt der Grad an Realität, der durch die dauernde Vermittlung von Unsicherheit erreicht wird. Nichts und niemand bleibt wie angenommen.
    Es gibt damals auch kritische Stimmen, die Ilse Aichingers erstem Roman das Märchenhafte vorwerfen. Dabei liegt der Autorin nichts ferner als Flucht vor der Wirklichkeit. Sie erfindet ja gerade zum besseren Ausdruck der wortlos zerrütteten Welt ihre eigene, anziehende, dinggesättigte Bildsprache: Lyrische Prosa. Es geht ihr nicht um allmählichen Auf- und Abbau von Spannung, sondern um die Vermischung einer zarten Ruhe mit der Angst. Eine bedrückende Stimmung ist das oft erst auf den zweiten Blick, ähnlich wie schon in Aichingers Erzählung "Das vierte Tor", die bereits 1945 im Wiener Kurier erschien. 1996 - da ist sie 75 und Gast der Deutschlandfunk-Sendereihe "Studio LCB" im Literarischen Colloquium Berlin - 1996 hat sie sie selbst gelesen, mit einer Stimme, wie fragend, ob der Text nach so langer Zeit noch Bestand hat.

    "Wohin führt das vierte Tor? Fragen sie doch die Kinder, mit den scheuen Gesichtern, die eben beladen mit Reifen, Ball und Schultasche von der letzten Plattform abgesprungen sind. Sie tragen keine Blumen in den heißen Händen, und sie sind nicht geführt von Vater, Mutter und Großtante, wie andere Kinder, die man behutsam zum ersten Mal einweiht in das Mysterium des Todes. Es erschüttert sie ein wenig, und sie fragen neugierig: Wohin geht ihr? - Wir gehen spielen. - Spielen auf dem Friedhof? Warum geht ihr nicht in den Stadtpark? - In den Stadtpark dürfen wir nicht hinein, nicht einmal außen herum dürfen wir gehen. - Wenn ihr doch geht? - Konzentrationslager, sagt ein kleiner Knabe ernst und gelassen und wirft seinen Ball in den strahlenden Himmel."

    Angesichts des Entsetzens, sagt Ilse Aichinger, sei die größere Hoffnung gewachsen. Monate dachten sie, man könne die Großmutter wieder holen. Als klar wurde, dass davon keine Rede sein kann, sei die Angst gekommen und habe sie überwältigt für eine gewisse Zeit, bis diese Angst, Jahre später, "unauslotbarer" geworden sei, "unrationalisierbarer". Licht und Dunkel durchfluten Aichingers erste große Veröffentlichung und erschüttern bis heute. Sie zeugt davon, dass auf der Welt zu sein für diese Autorin keine natürliche Gabe, immer konfliktreich ist. Selbst das Ende des Krieges erlebt sie als zwiespältig, wie sie in einem Gespräch mit Richard Reichensperger 1996 in "Studio LCB" erzählt.

    "Ich dachte jedenfalls, wenn das zuende geht, dann wird niemand mehr krank, dann stirbt niemand mehr in einem Spitalszimmer, dann gibt es keine Häftlinge mehr, ob schuldig oder unschuldig, ist mir ohnehin immer egal, und dann gibt es auch keine Brutalitäten mehr und nicht einmal schlechtes Wetter oder zu sonniges Wetter, was mir noch unangenehmer ist - nun, so war es nicht. Das war die größte Enttäuschung. Das war am schwersten, das ist zum ersten Mal wirklich wie ein Schüttelfrost gekommen: Wozu war denn das dann alles? Jetzt soll man da einfach so weiterleben, soll irgendwas machen, studieren oder das oder das, heiraten, nun ja, was man halt so auf der Welt macht. Soll aufhören. Es war doch jede Sekunde kostbar, jede Stunde, jedes Wort, das einer zum anderen gesagt hat, und plötzlich war nichts mehr kostbar."

    Ilse Aichingers Poetik, die das Aushalten der Ambivalenz zur Sprache bringt, ist immer auch politisch. Früh mischt sie sich ein. 1946, ein Jahr nach Kriegsende, noch vor der "größeren Hoffnung", ruft sie zum Misstrauen auf - nicht etwa gegen Gott, gegen den Bruder oder gegen ein Land.

    Sich selbst müssen Sie misstrauen! Ja? Haben sie richtig verstanden? Uns selbst müssen wir misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen! Schwingt nicht schon wieder Lüge darin? Unserer eigenen Stimme! Ist sie nicht gläsern vor Lieblosigkeit? Unserer eigenen Liebe! Ist sie nicht angefault von Selbstsucht? Unserer eigenen Ehre! Ist sie nicht brüchig vor Hochmut?

    Ihre "Rede an die Jugend", gehalten 1988 bei der Entgegennahme des Weilheimer Literaturpreises, schließt sie mit dem Ratschlag, immer auf der "geduldigen, aber niemals einzuschläfernden Suche" zu bleiben: "die Freude immer erhoffen, aber diese Hoffnung nie bestechlich werden lassen". Es ist am eigenen Leben erprobt. 1972 stirbt ihr Mann, der Autor Günter Eich, 1998 ihr Sohn Clemens Eich, Schauspieler und Schriftsteller, bei einem Autounfall. Sie zieht sich etwas aus der Öffentlichkeit zurück. Preise kommen regelmäßig, darunter 2000 der hochdotierte Joseph-Breitbach-Preis. Ilse Aichinger bleibt aufmerksam. Noch 2002, mit 81 Jahren, empfiehlt sie in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung in der Debatte um Martin Walsers Buch "Tod eines Kritikers", mit dem Wort Antisemitismus sparsam umzugehen. Ilse Aichingers Kritik setzt immer bei der Sprache an. Sie spürt wie viele im Nachkriegsdeutschland die Macht, die Wörter haben, wenn man sie missbraucht oder ungenau verwendet.

    ""Die Worte dürfen nicht provisorisch, unsicher, vage sein. Sie sind das einzige, was man erst niederschreiben darf, wenn es ganz da ist. Sie sind ja auch nicht etwas, was man behält, sondern etwas, was man hergibt."

    Nicht alle Leser kommen mit den rätselhaften Texten zurecht. Als "Fräulein Kafka" wird sie anfangs in der Gruppe 47 betitelt. Manche ihrer Erzählungen gelten als unzugänglich. Es braucht Zeit, sich auf sie einzulassen. Sie assoziieren und komponieren die Fremdheit der Welt und beginnen oft unvermittelt - wie die Erzählung "Der Querbalken":

    Ich wollte mich auf einem Querbalken niederlassen. Ich wollte wissen, was ein Querbalken ist, aber niemand sagte es mir.

    Aus einer Frage entstehen Fragengirlanden. Oft erweist sich, wie hier, eine namenlose Ich-Erzählerin als Gefangene des Lebens, hin- und hergerissen zwischen schnell verfügbaren Antworten und dem Beharren auf der Frage selbst, unsicher, was sie denken soll: Versperrt der Querbalken den Ausgang? Oder dient er dem Halt, vielleicht der Rettung? Schreiben wird wie das Sprechen zu einem Tastvorgang.

    "Ich habe auch Spielen so definiert, nämlich: in einem Spielraum sich bewegen, heißt ja Spielen. Bewegen in einem Spielraum, ohne die Grenzen zu berühren. Der Spielraum ist nicht sehr groß. Das war mir immer wichtig, also auch beim Schreiben. Auch das Schreiben empfinde ich als ein Sich-Bewegen in einem ziemlich engen Spielraum, in dem man nicht anstoßen soll, in dem man doch bleiben muss. Es entsteht dann eine ganz bestimmte, wenn man Glück hat sogar präzise Form der Bewegung."

    Ilse Aichinger bleibt die große Außenseiterin der deutschen Literatur, ohne Schule, aber einflussreich für viele. Wolfgang Hildesheimer findet sich von ihrer Erzählung zu einer Zeichnung mit Begleittext inspiriert. Und Peter Handke spricht davon, wie sie Leser sehend macht.

    "Ilse Aichinger vertraut nur auf ihre eigene, tiefe - na, Wildheit, kann man sagen. Es ist eine sehr wilde Literatur, fast eine ursprüngliche Literatur. Es braucht da nur ein Wort richtig zu sein und das Bild führt zum Mythos zurück. Ein Wort genügt, und nicht nur die Seele des Lesers wird gesund, sondern die Seele dessen, der liest, die wird sehend. Das ist das, was über das Zauberhafte hinaus geht und in gutem Sinn eine beständige Literatur erzeugt. Es ist eine Wortarbeit."

    Eine Wortarbeit, die eine verschworene Gemeinschaft zu schätzen weiß, sagt Michael Krüger, Lyriker und Leiter des Hanser-Verlags. Keineswegs aber sei das eine Geheimgesellschaft, zu der nur Eingeweihte Zutritt haben. Kein Codewort, keine Gesichtskontrolle, kein Ausweis, kein Chip. Jeder, sagt er, ist willkommen, der ein gewisses Zutrauen zu den Dingen hat, die sich hier nie so verhalten, wie man es sich wünscht. Für Michael Krüger lösen Aichinger-Gedichte starre Strukturen.

    "Ich weiß noch, wie ich mal in einem Vorwort in dem damals von Wagenbach und mir herausgegebenen Tintenfisch, diesem Jahrbuch für Literatur, geschrieben habe: Wer Politik macht, ohne ein Gedicht von Ilse Aichinger zu lesen, macht die falsche Politik. Da hatte ich sie irgendwie explizit am Wickel. Die Ilse war immer bei uns vertreten, da waren aber eben auch ganz harte theoretische Dinge drin. Aber ich war immer der Meinung, wer sich sozusagen nicht auf diese Poesie einlässt, der wird an seinem eigenen Dogmatismus ersticken."

    Es ist möglich, dass man von dem Augenblick an, in dem man selbst zur Heimat wird, sich weniger spürt.

    SPRECHER
    Ilse Aichinger zieht das Sperrige dem Bequemen vor. Dennoch sind ihre Texte, Gedichte oder Hörspiele mitunter von bezaubernder Leichtigkeit.

    "Ich würde an der Welt überhaupt alles ändern, ich meine, es nehmen alle alles so selbstverständlich. Ich würde auch nichts ändern, weil es ohnehin schon absurd genug ist. Man könnte vielleicht sagen: Ich möchte noch präzisere Absurditäten erfinden. Wenn überhaupt. Aber man könnt auch drei Augen haben, und jeder würde es für genauso selbstverständlich nehmen wie jetzt, und es würden auch genügend wissenschaftliche Erklärungen dafür da sein, dass drei Augen absolut notwendig seien, wegen irgendeinem Stereogefühl oder sowas - aber ich glaube, es ist alles erfunden, aber es kommt auf die Präzision der Erfindung an, und wenn man sich dann, und es wird immer mehr die Präzision mein Trost."

    Man solle ihre Texte lesen wie man etwas sucht, das verloren gegangen ist, sagt Ilse Aichinger in einem der vielen Interviews aus vielen Jahren. Andererseits findet sich in ihrem Werk auch dieser Satz, trotzig alle ihre Antworten mit einem Schlag ins Vage ziehend:

    Wenn ich überhaupt nichts mehr erzählte und auch auf Fragen nur im äußersten Fall und nur dem Schein nach einginge?

    Tatsächlich wird es in den vergangenen Jahrzehnten etwas ruhiger um sie, werden die Pausen länger. Dann erscheint 2001 der Band "Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben", ein Plädoyer für die Flüchtigkeit, die Worte überhaupt erst erdet. Hier schreibt die leidenschaftliche Kinogängerin - über Stan Laurel und Oliver Hardy, "Extremformen einer ins Chaos kippenden Ordnung"; über Filme wie "Der dritte Mann", über die Vergangenheit und Alltägliches. Filme sind ihr im Alter "Ein- oder Ausreisemöglichkeit" aus dem eigenen Leben. Drei Bücher entstehen aus dem feuilletonistischen Spätwerk, dem "Journal des Verschwindens", eine dem Mündlichen lauschende Schrift, über Abschiede mehr als über das Erinnern - das Echo einer ganz besonderen Haltung zur Welt, die sie 1984 so formuliert:

    "- Die Tage sind am ehesten wie Orte, man bleibt nicht in ihnen, aber man hat einen ganzen Tag, man hat sie zur Verfügung, geliehen.
    - Geliehen, von wem?
    - Ich weiß nicht, ich kann es nicht sagen. Aber es kommt mir alles wie Leihgaben vor, von den Kindern begonnen bis zu den Büchern bis zu allem. Ich hab auch gar kein Gefühl für Besitz oder für - ich kann mir auch gar nicht vorstellen, dass etwas mir gehört. Das konnte ich schon als Kind nicht. Es erschwert etwas das Verhältnis zur Welt."

    Ilse Aichinger lässt sich bis heute nicht festzurren. Ihre Sätze widerstreben der Deutung. Steigt man aber an ihnen hinab und hinauf, danken sie es mit Überraschendem, Unglaubwürdigem, Wahrhaftigem. Patina haben sie im Laufe der Jahre jedenfalls nicht angesetzt. Dafür den Schimmer des Menschseins bewahrt.

    Link zu dem Aichinger-Gespräch des Tonarchivs des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB)