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Unruh

Schlafes Bruder hieß die Debüt-Sensation des Jahres 1992. Sie machte ihren Autor, den Österreicher Robert Schneider, schlagartig berühmt. Der Roman erzählt die ebenso originelle wie abstruse Geschichte des Dorfjungen Johann Elias Alder, der im zutiefst provinziellen 19.Jahrhundert lebt, von Gott mit musikalischem Genie geschlagen ist und sein elendes Leben wegen einer unerwiderten Liebe freiwillig zu Ende bringt.

Sylvia Schwab | 28.11.2002
    Unruh, der Roman des Schweizer Schriftstellers Hansjörg Betschart, ist ebenfalls ein Debüt - sieht man einmal von mehreren Kinderbüchern des Autors ab. Die Parallelen mit Robert Schneiders Text sind geradezu verblüffend. Denn Betschart liefert nicht nur - wie Schneider - einen historisch-biographischen Roman. Im Zentrum des Buches steht auch ein völlig einseitig begabter, ebenso tumber wie genialer Protagonist, dessen fast überirdisch erscheinende Fähigkeiten ihm Freude und Fluch zugleich sind. Setzt jedoch Schneider deutliche biographische Eckdaten wie die Geburts- und Sterbeszene seines Johann Elias Alder, so bleibt der Anfang des schlicht Laurent genannten Protagonisten bei Hansjörg Betschart im Dunkeln, und sein Ende löst sich auf im milchigen Dunst eines typisch englischen Nebels. Laurent entschwindet wieder ins Nichts, woher er zu Beginn des Romans ja auch kommt: 1'15

    Im Jahr 1786 wird in Gurteren bei Bern ein Findelkind geborgen. Der Junge mit dem fahlen Haar, den gelben Augen, der lederartig-alten Haut und dem gleichbleibenden Herzschlag in der Taktfrequenz eines Pulsars wird Laurent getauft und scheint mit dem Teufel im Bund: Er wächst kaum, spricht nicht, murmelt aber ständig mathematischen Formeln, altert gespenstisch schnell und bringt Unglück, wohin er auch kommt. Laurent rechnet, wie andere atmen, es gibt keine Strecke, kein Maß und kein Gewicht, keinen Zinsatz und keine Zeitspanne, die er nicht blitzschnell in Formeln fassen und festschreiben kann. Als der berühmte Uhrmacher Jacquet-Droz Laurents Genie für die eigenen Zwecke ausnutzen will, ihn nach Genf und schließlich nach Madrid mitnimmt, hat auch seine letzte Stunde bald geschlagen. Und Laurent ringt mit seinem neuen Meister Mégevand um die Entwicklung der ersten offiziellen Dezimaluhr, die ja nach der französischen Revolution in Paris die neue Zeit einleiten soll.

    Hansjörg Betscharts Unruh wird sich noch einen zweiten Vergleich gefallen lassen müssen, den mit Patrick Süskinds sensationellem Erfolgsroman "Das Parfum". Ob beabsichtigt oder nicht, gibt es auch hier erstaunliche Gemeinsamkeiten. Stellen beide Romane doch das 18.Jahrhundert als eine ebenso faszinierende wie phantastische, eine ebenso anstößige wie abstoßende Epoche vor. Und beide konstruieren einen genialen Gnom - hier Geruchsspezialist und Parfümeur, dort Mathematiker und Uhrenkonstrukteur - der dieses Jahrhundert verunsichert und verändert. Auf einen kurzen Nenner gebracht ist Laurent wie Süskinds Grenouille ein häßlicher Held, der sich nach Liebe und Geborgenheit sehnt, ein Underdog, der Mord und Totschlag begeht bzw. auslöst - und damit auch die Verkörperung einer zugleich großartigen und grausamen Epoche.

    Im Wechsel zwischen einem altmeisterlich-hölzernen, dann wieder üppig-barocken Ton, zwischen witzigen und äußerst drastischen Szenen, detailgenauen Beschreibungen und phantastischen Halluzinationen breitet ein fiktiver Erzähler ein Riesenpanorama des 18.Jahrhunderts aus. Seine oft komischen, dann wieder drastischen Szenen erinnern an die Bilder von Brueghel oder Bosch. Dieser anonyme Schreiber - es könnte Laurent selbst sein - macht seine Aufzeichnungen für eine ebenso anonyme "Madame". Möglicherweise ist dies Laurents angebetete Marie, die später als Madame Tussaud in Paris ihr berühmtes Wachsfigurenkabinett eröffnen wird. Dagegen spricht allerdings, dass Laurent außerhalb von Mathematik und Mechanik äußerst einfältig ist und auch nicht schreiben kann.

    Wer aber auch immer für wen dieses abenteuerliche Leben einer von fast allen Mitmenschen geschundenen Kreatur zu Papier bringt - er ist ein Erfinder wahnwitziger Episoden, ein Aufschneider und Übertreiber, der ein Feuerwerk skurriler Wunder und dramatischer Katastrophen, grotesker Grausamkeiten und drastischer erotischer Szenen abschießt. Ein Mathematiker mit bizarrer Phantasie, der Szene an Szene reiht, Episode zu Episode addiert, und Menschen wie leblose Gewichte behandelt, die das Uhrwerk der Handlung rein mechanisch am Laufen halten. Hansjörg Betschart spult eine möglicherweise großartige Geschichte - man muß wieder unwillkürlich an Schneider oder Süskind denken - so kleinteilig ab, dass viele der unzähligen Episoden letztendlich beliebig wirken. Der Leser hetzt mit Laurent von Szene zu Szene, von Ereignis zu Ereignis, hechelt den bizarren Einfällen des Erzählers atemlos hinterher und fragt sich immer wieder, welche Rolle diese Figur und welche Bedeutung jene Passage für den großen Handlungsbogen haben könnte. Weniger wäre da oft mehr gewesen.

    Im Mittelpunkt von Betscharts Roman - der Titel Unruh bringt es schon auf den Punkt - steht die Uhr als Verkörperung der Zeit. Während sie für Laurent, den genialen Mathematiker und Erfinder immer kleinerer und präziserer Uhrwerke, nichts als ein wunderbares Spielzeug und für Jacquet-Dros schlicht ein Wirtschaftsfaktor und Machtmittel ist, so legt der Erzähler ihr besondere Bedeutung zu: Die Uhr symbolisiert die Zeit an sich, ihre Doppeldeutigkeit einerseits als historische Epoche und andererseits als objektiv meßbare Zeitspanne. Ein altes Thema, dessen subjektive Komponente die Literatur und Philosophie des vergangenen Jahrhunderts immer wieder beschäftigt hat. Es läßt auch Betscharts Erzähler nicht los, wie eine bestimmte Zeitspanne sich scheinbar endlos dehnen, aber auch rasend vergehen, stehenbleiben oder aber verfliegen kann. Genau diese individuelle Zeitempfindung aber kann kein Physiker und kein Mathematiker berechnen und keine Uhr aufzeigen, verstehen und festhalten können sie nur die Psychologie - und die Literatur.

    So feiert Betscharts "Unruh", in dessen Mittelpunkt ein mechanisches Präzisionsinstrument wie die Taschenuhr des 18.Jahrhunderts steht, nicht nur die Technik, sondern auch das Schreiben. Denn der Roman, dem Uhrwerk ähnlich als eigener kleiner Kosmos mit filigraner Struktur, ist dem Zeitmesser doch auch unendlich überlegen: Schreibend kann ein Erzähler Zeit und Raum überspringen, die Geschichte anhalten oder weiterdrehen, dehnen oder verkürzen. "J'écris - ne suis-je donc pas?" fragt Betscharts Erzähler am Schluß: Ich schreibe - bin ich also nicht?

    Doch, der Erzähler ist, weil er schreibt. Aber er hätte seine Macht über Raum und Zeit, über Menschen und Geschichte - und damit auch über seine Leserin und seine Leser - noch weitaus intensiver nutzen können.