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Uraufführung
"Aller Tage Abend" am Schauspielhaus Wien

Der Roman "Aller Tage Abend" stammt von Jenny Erpenbeck (Foto) - und die Theaterfassung wurde jetzt in Wien uraufgeführt. Leider entstand darauf kein theatrales Kunstwerk. Auch die sinnliche Genauigkeit von Erpenbecks Sprache verliert sich.

Von Hartmut Krug | 02.02.2014
    Mittlerweile schein kein erfolgreicher Roman mehr vor dem Zugriff des Theaters sicher. Nicht immer zum Vorteil von Roman und Theaterfassung. Immerhin passt Andreas Jungwirths Dramatisierung von Jenny Erpenbecks Roman „Aller Tage Abend“ gut ins Spielzeitprogramm des Schauspielhauses Wien, das sich mit „100 Jahren Wahn und Sinn“ seit dem 1. Weltkrieg beschäftigt.
    Die Lebensgeschichte der Hauptfigur, die von Erpenbeck in fünf Kapitel-Büchern in mehrere Lebensgeschichten aufgeteilt wird, reicht von 1902 bis 1992. Dabei stirbt die im galizischen Brody geborene Heldin nicht nur schon kurz nach der Geburt, sondern ist auch stets im nächsten Buch wieder lebendig, um eine neue Erfahrungswelt zu erleben, so in Wien, Moskau und Ostberlin, um immer wieder zu sterben.
    "Drei Handvoll Erde, und das kleine Mädchen, das mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus dem Haus läuft, lag unter der Erde, drei Handvoll erde, und die Zehnjährige, die mit blassen Fingern Klavier spielt, liegt da; drei Handvoll, und es wird auch die Halbwüchsige, der die Männer nachschauen, weil ihr Haar so kupferrot leuchtet, verschüttet; drei Handvoll, und die erwachsene Frau wird langsam von der Erde, die ihr in den Mund fällt, erstickt."
    Die Erzählstruktur des Romans behält die Bühnenfassung weitgehend bei. Nur nach jedem Tod kommen die Schauspieler, die weniger Figuren gestalten als deren Handlungen erzählen, an der Rampe zusammen und überlegen, was anders und wie weiter hätte laufen können mit dem Mädchen oder der Frau.
    Auf einer Bühne mit hin und her geschobenen offenen Wandteilen, die eher im Weg stehen und weder als sinnliche noch funktionale Zeichen überzeugen, verfällt zu Beginn die junge Mutter des gerade gestorbenen Kindes in die Erstarrung. Der Vater verliert sich im Bühnenhintergrund, um dann nackt auf einem Stuhl im Scheinwerferlicht der amerikanischen Einwanderungsbehörde befragt zu werden.
    Menschliches Memento Mori
    Schon in dieser ersten Szene wird deutlich: die sinnliche Genauigkeit von Erpenbecks Sprache, ihre wunderbar nüchterne Aura, verliert sich im vergröbernden Vorspiel. Wo Erpenbeck durch Jahrzehnte die Ostbiographie eines in Polen geborenen jüdischen Mädchens so verdeutlicht, dass man versteht, dass auch ihre Abstammung es ihr in diesen Zeiten dauernder Lebensgefahr schwer macht, verallgemeinert die Theaterfassung dies zu einem eher allgemein menschlichen Memento Mori.
    Die nun als 17jährige Auferstandene verliebt sich nach dem 1.Weltkrieg in Wien voller Zweifel und Selbstmordphantasien in den Verlobten ihrer toten Freundin und lässt sich von einem unglücklichen jungen Mann erschießen. Diese Szene wird mit viel Musik- und Videoeinsatz auf leerer Bühne unverhältnismäßig aufgeblasen.
    Die Inszenierung macht mit ihren wechselnden szenischen Findungen, die den Text manchmal fast volksstückhaft vereinfachen und, schlimmer noch, vergröbern, den Eindruck, Regisseurin Felicitas Brucker traue der sinnlichen Nüchternheit des Textes nicht. So müssen im dritten Teil, als die Heldin im Jahr 1938 in Moskau voller Angst vor dem stalinistischen Terror ihren Lebenslauf für einen Antrag zu formulieren versucht, allerlei Figuren und Alter Egos stumm herumstehen oder in den Hausteilen herumklettern:
    "Seit mein Mann abgeholt wurde, weiß ich, dass ich mit jedem Wort, das ich schreibe oder nicht schreibe, nicht nur mit meinem Leben spiele, sondern auch immer mit seinem. (….) Oder spiele ich gegen den Tod? Ich weiß, dass ich mit jedem Wort, das ich schreibe oder nicht schreibe, mit dem Leben meiner Freunde spiele."
    So eilt die Inszenierung in zwei bunten Stunden durch ein Buch, dessen Geschichten sie zwar nacherzählt, dessen Atmosphäre und sprachlich schnörkellose Aura sie allerdings ebenso verfehlt wie dessen Härte. Und dass hier vom Leben und Scheitern einer Jüdin, Exilantin, Kommunistin und DDR-Bürgerin erzählt wird, kann die Inszenierung auch nicht sinnlich verdeutlichen. Die letzte Szene ist dann eher nur noch Slapstick, bei dem die von Alzheimer und Erinnerungen geplagte Frau von einer russischen (!) Pflegerin im Heim auf einem Drehstuhl um sich selbst gedreht wird, während wieder stumme Schatten herumstehen.
    Erpenbecks Roman wurde in Wien nicht zu einem theatralen Kunstwerk transformiert, sondern allenfalls und nicht sonderlich geschickt als Material genutzt.