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Urteil gegen Oleg Senzow
Ein grotesker Prozess

20 Jahre Lagerhaft für den ukrainischen Filmemacher Oleg Senzow: Das Urteil und der Prozess lege den Schluss nahe, dass ein Exempel statuiert werden sollte, kommentiert Thorsten Jabs. Es sei aber auch exemplarisch für die Zustände im heutigen Russland.

Von Thorsten Jabs, Deutschlandradio-Korrespondent in Moskau | 25.08.2015
    Regisseur Oleg Senzow (links) und Aktivist Alexander Koltschenko müssen viele Jahre in Haft.
    Regisseur Oleg Senzow (links) und Aktivist Alexander Koltschenko müssen viele Jahre in Haft. (Imago / Itar-Tass / Valery Matytsin)
    In seinen Schlussworten hatte Oleg Senzow aus dem bedeutenden russischen Roman "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow zitiert: "Die größte Sünde auf der Welt ist die Feigheit". Religiöse Menschen würden wohl aus dem Stehgreif noch größere Sünden aufzählen. Aber es ist bezeichnend, dass der ukrainische Regisseur einen Autor zu Rate zieht, der den absurden Alltag in der Sowjetunion schildert.
    Bei Bulgakow geht es auch um das Verhältnis des Einzelnen zur Staatsmacht. Die Sowjetunion gibt es zwar nicht mehr – doch auch im heutigen Russland zeigt sich die Staatsgewalt auf absurde Art und Weise. Zu 20 Jahren Lagerhaft wurde Senzow verurteilt. Am Ende eines Prozesses, der als grotesk beschrieben werden kann.
    Der Angeklagte und Belastungszeugen berichteten von Misshandlungen und Folter. Belastende Aussagen wurden im Laufe des Verfahrens zurückgezogen. Eine Mitgliedschaft beim in Russland verbotenen "Rechten Sektor", einer nationalistischen ukrainischen Bewegung, konnte Senzow nicht nachgewiesen werden – all das zählte nicht vor Gericht.
    Die russische Judikative hielt weiter an ihren Hauptanschuldigungen fest. Der 39-jährige Filmemacher sei ein Terrorist, habe Waffen geschmuggelt, Anschläge geplant und durchgeführt. Das reichte für die harte Verurteilung. Man muss zu dem Schluss kommen, dass ein Exempel statuiert werden sollte.
    Für Russland gehört die Krim zu Russland. Wer anders denkt oder sich dagegen auflehnt, wird bestraft. Davon zeugen viele Prozesse gegen Ukrainer, die in Russland noch anstehen – genauso wie Berichte von Menschenrechtsorganisationen über die Zustände auf der annektierten Halbinsel.
    Unterstützung von russischen Regisseuren
    Es ist mutig von russischen Regisseuren wie Alexander Sokurov, Vladimir Mirzoev oder Alexei German junior, Senzow kurz vor der Urteilsverkündung zu unterstützen. Doch insgesamt reichte und reicht diese Hilfe nicht aus. Eine große Welle des Protestes blieb und bleibt aus. Vielleicht verständlich in einem Land, in dem Widerspruch und Auflehnung mit Repression und Hetze bestraft werden. Ein Land, das in den letzten Jahren unter Präsident Vladimir Putin zu einem Land geworden ist, in dem Freiheit noch kleiner geschrieben wird als in seinen ersten beiden Amtszeiten oder unter seinem Nachfolger und Vorgänger Dmitri Medwedew. Nichtregierungsorganisationen werden gegängelt, die Medien auf Linie gebracht, Andersdenkende eingeschüchtert.
    Im Lichte dieser Entwicklung stehen der Prozess und das Urteil gegen Oleg Senzow für eine Staatsmacht, die sich aus demokratischer Sicht zurückentwickelt hat. Eine traurige Entwicklung. In diesem Land ist es vielleicht nicht die größte Sünde, feige zu sein. Aber es ist bewundernswert, wie viel Mut viele Menschen aufbringen, sich gegen diese Staatsmacht zu stellen.
    Gleichgültig, was man von Senzow und dem Prozess hält – sein Auftreten war mutig. Und seinen Schlussworten kann man sich nur anschließen: Man sollte dem russischen Volk wünschen, keine Angst zu haben.