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Verfolgte Kinder in der NS-Zeit

Kinder wurden nicht nur Opfer der Ausrottungsstrategie der Nazis, sie wurden auch mitleidlos gequält. Gleich zwei Ausstellungen in Berlin zeigen Schicksale von Kindern im Dritten Reich. In einer davon sollen Jugendliche ihren Altersgenossen die Geschichte von Anne Frank näher zu bringen.

Von Anja Nehls | 19.01.2012
    Das Versteck der Anne Frank befindet sich mitten im Foyer des Deutschen Bundestages im Paul–Löbe Haus. Der Gedankenraum – vielleicht drei mal drei Meter groß. Auf Kunststoffplanen ist außen das Hinterhaus in Amsterdam abgebildet, in dem sich die Familie vor den Nazis versteckt hat – Innen ist nichts – außer Platz für Gedanken und der Stimme, die aus Anne Franks Tagebuch liest:

    "Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinausdürfen. Und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden. Das ist natürlich eine weniger angenehme Aussicht. Nichts als traurige und deprimierende Nachrichten habe ich heute. Unserer jüdischen Bekannten werden gleich gruppenweise festgenommne. Die Gestapo geht nicht im Geringsten zart mit diesen Menschen um. Sie werden in Viehwagen nach Westerbork gebracht."

    Deine Anne - Ein Mädchen schreibt Geschichte – heißt die Ausstellung – und darum geht es – um das Mädchen und die Geschichte. Ein Glücksfall sind die vielen erhalten gebliebenen Fotos. Annes Vater war Hobbyfotograf. Die Bilder zeigen eine glückliche Familie vor dem Krieg, aber auch die Zerstörung und die Zeit im Versteck. Beklemmende Fotos aus dem historischen Kontext ordnen die Lebensgeschichte ein. Helfer, Zuschauer, Opfer und Täter kommen in Zitataten zu Wort. Stolz ist die Projektleiterin Larissa Weber vom Anne Frank Zentrum Berlin auf die Idee der sogenannten Peer Education. Besonders geschulte Jugendliche sollen anderen Jugendlichen die Ausstellung erklären:

    "Der Vorteil ist, wenn das Jugendliche für Jugendliche machen, dann ist das auf Augenhöhe, das ist nicht der Geschichtslehrer, der etwas erzählt, Jugendliche unter sich finden viel eher die Sprache oder auch die Themen, die für sie interessant sind."

    Einen Bezug zur Gegenwart zu schaffen war den Ausstellungsmachern wichtig. Dieser Bezug nimmt einen wichtigen Teil der Ausstellung ein – und er regt zum Nachdenken an. Denn hier geht es nicht nur um längst vergangenes Unrecht. Damals waren es die Juden – aber wer wird heute ausgeschlossen? Vielleicht Dicke, vielleicht Schwule vielleicht Ausländer. Jeder Mensch ist anders – damals wie heute:

    "Der Constantin ist ein Mensch, der braucht ganz viel Bewegung – viele Partys. Immer mit Freuden unterwegs – er macht immer das, was er für richtig hält – ich glaube, dass die Liebe für den Constantin ein ganz wichtiges Gefühl ist."

    "In diesem Film geht es einfach darum darzustellen, was denken andere über mich, was denke ich über mich selber, was hat das für Auswirkungen auf mich, von Fremd- und selbstbildfern ist da immer die Rede und das ist auch wichtig für unsere eigene Identität. Auch Anne Frank hat sich sehr mit der Frage auseinandergesetzt, wer bin ich eigentlich, da merkt man, auch damals hat sich Anne mit diesen Identitätsfragen auseinandergesetzt, genauso wie das Jugendliche heute tun."

    Ein wenig umständlich - nicht nur für Jugendliche - ist der Zugang zum Deutschen Bundestag. Besucher müssen sich mindestens einen Tag vorher namentlich anmelden – Spontanbesuche, zum Beispiel von Touristen sind nicht möglich.

    Das ist in der neuen Ausstellung in der Topografie des Terrors anders. Im Gedenken der Kinder - Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit ist eine Sonderschau auf 200 Quadratmetern. Thomas Beddies, Medizinhistoriker an der Charité Berlin hat sie zusammengestellt.

    "Wir haben versucht, Geschichten zu erzählen und die Geschichten nachzuvollziehen anhand von den originalen Dokumenten. Das ist uns auch wichtig gewesen. Das ist eine Ausstellung, die ein bisschen Zeit braucht. Die Kinderbilder rühren natürlich in besonderer Weise an."

    Zu sehen sind wenige, aber emotional anrührende Fotos von behinderten und offenbar fröhlichen Kindern. Daneben vor allem Dokumente, Krankenakten, Briefe und Protokolle, deren grausamer Inhalt sich oft erst bei genauerem Hinsehen und nach intensivem Lesen erschließt. Wenn bei einem Kind, das 7,5 kg wiegt von 2,5 Liter Eiter nach einer experimentellen Tuberkulose Impfung die Rede ist oder von der Zwangssterilisationen bei einer 16jährigen, die nach einer Infektion ertaubt war, dann läuft es einem kalt den Rücken herunter.

    Mehr als 10.00 Kinder wurden während der Nazizeit in Gaskammern getötet, sinnlos gequält oder für Experimente missbraucht – von Ärzten, Psychiatern und ihren Helfern. Die Kinder-und Jugendärzte und ihre Berufsverbände haben lange gebraucht, bis sie ihre Rolle während der NS Zeit aufgearbeitet haben. Die Ausstellung soll nun möglichst durch ganz Deutschland wandern.