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Vom Bahnvorsteher zum Liedermacher

Eigentlich ist er Bahnvorsteher. Erst vor sechs Jahren, mit Mitte dreißig, hängte Gianmaria Testa seinen alten Job an den Nagel und wurde Liedermacher. Die italienische Presse ignorierte ihn zunächst, mittlerweile feiert sie ihn. Nun hat er ein Live-Album auf den Markt gebracht.

Gianmaria Testa im Gespräch mit Camilla Hildebrandt | 02.11.2013
    Camilla Hildebrandt. Zwanzig Jahre stehen Sie auf der Bühne, Herzlichen Glückwunsch! Und alles hat mehr oder weniger mit dem ersten Preis angefangen, den Sie auf dem Festival in Recanati 1993 gewonnen haben, da waren Sie 35. Wie war das?

    Gianmaria Testa: Mich hat das Thema des Festivals interessiert: Fast niemand kauft Gedichtbände, aber es wird viel Musik gehört. Ist die Notwendigkeit die wir haben Gedichte zu lesen und diese dann mittels Musik zu verbreiten ausreichend? Dazu wurden Poeten und Liedermacher eingeladen. Im Komitee saßen Leute, die ich sehr respektiere, also habe ich eine Kassette hingeschickt, und zu meiner großen Überraschung haben sie mich eingeladen. Der Preis war eine Million Lira, ca. 600 Euro, um einen der Songs richtig aufzunehmen. Also habe ich ein Gedicht von Leopardi gesungen, einem sehr berühmten italienischen Dichter.

    Ein Jahr später habe ich wieder gewonnen. Diesmal kam eine Dame aus Frankreich zu mir und sagte, es seien drei französische Plattenlabel daran interessiert meine Lieder zu veröffentlichen. Sehr gerne, sagte ich, aber ich bin 36, habe einen Job und bin nicht bereit dieses ganze Schaupiel mitzumachen, Presse, Fernsehen, etc. Ein paar Monate später nahm ich meine erste Platte auf, 1995, und ab da ging es immer schneller.

    Hildebrandt:Es gab in Frankreich immer eine große Faszination für Ihre Musik, warum gerade dort?

    Testa: Gute Frage, vielleicht weil sie die Texte nicht verstehen. Keine Ahnung. Mein erstes Konzert in Amien zum Beispiel, das war im Maison de la culture mit zwei Theatersälen, einem Kleinen und einem Großen. Als ich sah, dass ich für den großen Saal gebucht war, sagte ich zum Direktor: Du bist verrückt, es werden doch nicht so viele Leute kommen, um mich singen zu hören. Und er sagte etwas, was ich nie vergessen habe: Vielleicht kommen sie nicht speziell wegen dir, aber sie vertrauen uns. Und er hatte Recht, es war voll. Das ist ein Konzept, das es überall in Europa geben sollte, Kultur zugänglich für jeden machen und dann ein kulturelles Programm zusammenstellen, auf das man vertrauen kann. Heute muss alles rentabel sein, ein Produkt muss verkauft werden.

    Hildebrandt: Die Begeisterung der Franzosen für Ihre Musik hat letztendlich auch das Bild der Italiener von Ihnen maßgeblich verändert. 1997 haben Sie in Paris gespielt, im Olympia, dem Konzertort schlechthin, das hat alles verändert.

    Testa: Das ist richtig. Ich machte gerade ein Interview für Radio France, und dann kam ein Herr zu mir und sagte: wollen Sie im Olympia spielen? Für mich war das wie die Zusage der Mailänder Scala für einen Opernsänger. Klar, sagte ich! Es war eine Koproduktion mit Olympia, sonst wäre das viel zu teuer gewesen, und Oh Wunder: es war voll. Es kam sogar eine Journalistin von der Zeitung "Republica". Ab da kamen sie, die TV-Stationen und Radios, um über dieses positive "Monster" zu schreiben. Ich habe fast allen abgesagt, denn sie wussten überhaupt nicht, was ich sang, es ging ihnen nur um diesen seltsamen Typ, den Bahnvorsteher, der im Olympia gesungen hat. Aber es stimmt schon, dass es mir die Türen in Italien geöffnet hat.

    Hildebrandt: Muss es immer so sein, dass ein Künstler die Heimat verlässt, im Ausland Erfolg hat, um zuhause anerkannt zu werden?

    Testa: Nein, ich glaube nicht. Es war eher Zufall. Also, nach dem Konzert in Recanati gab es schon Angebote der Italiener, aber die erzählten mir etwas von einer Person, einem Bild, das ich erschaffen sollte. Ich schaute sie wie Marsmenschen an und sagte: hört mal, es geht hier um Musik! Und einer wagte es sogar zu sagen: Das ist zu schön, was Sie schreiben, das wird nicht funktionieren!

    Hildebrandt: Sie haben auch als Jugendlicher schon Musik gemacht, in verschiedenen Bands gespielt, Rockbands; ich finde, Rock passt zu Ihnen.

    Hildebrandt: Das stimmt, ich habe schon mit vierzehn angefangen Songs zu schreiben, mir das Gitarrenspiel selbst beigebracht und natürlich den Rock geliebt! Jetzt auf der letzten CD habe ich Rock-Gitarren eingesetzt, weil es die Songs erfordert haben. Aber ob ich den den Rock beherrsche? Nein, denn ich bin in keinem Bereich wirklich Spezialist. Musikstile sind für mich wie Farben auf einer Palette, also wenn ich ein bestimmtes Lied schreibe, dann braucht es dafür vielleicht ein wenig Jazz, Bossa oder Rock, so wie ich ihn verstehe.

    Hildebrandt: Ihr neues Live-Album: Es sind viele Song von der letzten CD darauf "Vitamia", Songs über das Arbeitsleben. Besonders "Cordiali Saluti" "Mit herzlichen Grüßen" hat mich beeindruckt. Wie ist das Lied entstanden?

    Hildebrandt: Es gibt einen Autor der heißt Andrea Bajani, sein Buch heißt genau so: "Cordiali Saluti", 2004 erschienen, und es handelt von einem Herrn, der professioneller "Entlasser" ist. Er schreibt fürchterliche Briefe und versucht die Entlassung so süß wie möglich zu gestalten. Das ist hochaktuell, wenn man bedenkt, dass in Italien 40 Prozent der jungen Leute keinen Job haben. Also habe ich einen Entlassungsbrief geschrieben, der sehr gewalttätig daherkommt. In Italien werden Menschen mit Familie entlassen, die keine Chance auf einen neuen Job haben. Viele kamen zu mir und sagten: du hast über mich gesungen.

    Hildebrandt: Sie beginnen im Booklet mit einer Art Einleitung, das heißt, Sie erzählen von den Grenzen: am Brenner gibt es sie nicht mehr, aber in den Köpfen schon, sagen Sie. Ist es nicht unsere Aufgabe im Leben Toleranz zu leben?

    Testa: Exakt. Mit dem Alter stelle ich immer mehr fest, dass wir natürlich alle eine kleine Grenze in unserem Kopf haben, das ist unser privater Garten. Aber wenn wir darum eine Mauer ziehen, dann werden wir unnütze Wesen. Der Garten ist dazu da, um für andere auch zugänglich zu sein, natürlich muss er auch als Refugium dienen. Ich glaube, die negativste Seite des sogenannten Neoliberalismus, ist, dass es heißt: wenn man seine eigenen, kleinen Privilegien verteidigt, kann man sich gegenüber den Anderen besser verteidigen. Ich glaube, das ist verkehrt. Wenn uns etwas rettet, dann das Gemeinsame. Wir, die normalen Leute müssen solidarisch sein. Gegen den Neoliberalismus setze ich den Humanismus.

    Hildebrandt: Gibt es einen Song, der genau von dieser Toleranz spricht?

    Testa: Ja: 20 Mila Leghe, 20 Tausend Meilen unter dem Meer, der Titel eines Jules Verne Romans. In Italien gibt es eine Partei, die heisst Lega Nord, und für die war es ganz klar, dass es ein Song gegen sie war. Eines Tages war ich auf dem Weg mit meinem Sohn zur Schule, und er fragte mich, Papa, was bedeutet Seccezione- Sezession? Schwierig, das einem Sechsjährigen zu erklären. Ich sagte: Ich schreibe dir ein Lied darüber. Also: alle Meere der Welt entscheiden sich dafür sich zu trennen. Jeder hat endgültig genug vom Anderen, sogar jeder Tropfen entscheidet sich so und letztendlich auch die Wasser-Moleküle. Sie wollen sich trennen. Wasserstoff sagt zu Sauerstoff: ich habe genug, Millionen Jahre waren wir H2O, jetzt werde ich meine Identität verteidigen. Und der Sauerstoff trennt sich. Und das Wasser auf der ganzen Welt verschwindet.

    Hildebrandt: Es ist auch ein bis dato unveröffentlichter Song auf der CD von dem verstorbenen Poeten Fabrizio de Andre.

    Testa: Fabrizio de Andre, ja, ich singe das Lied Hotel Supramonte, weil ich ihn verehre. Er hat mir als Jugendlicher gezeigt, dass es Menschen gibt, die Lieder schreiben, um wirklich etwas zu sagen und nicht nur, um zu zeigen, dass sie eine schöne Stimme oder schöne Beine haben.

    Hildebrandt: Die Aufnahme haben Sie mit alten Bekannten gemacht, mit Giancarlo Bianchetti, Nicola Negrini, Philipe García, seit wann kennen sie sich?

    Testa: Philipe kenne ich seit fünfzehn Jahren, Nicola seit zehn. Ich hatte die Chance, mit sehr vielen Musikern zusammenzuarbeiten, aber mit ihnen ist es besonders. Der Akt des Zusammenspielens bedeutet immer etwas Intimes miteinander zu teilen. Ein Musiker, der hoch proffessionell ich, den ich aber nicht mag, interessiert mich überhaupt nicht. Wenn man sich aber versteht, ist es einfach wunderbar. Ich möchte sogar sagen, dass das der Grund war, warum wir diese Live-CD aufgenommen habe. Ich wollte, dass es wie ein Zeugnis dieser Zusammenarbeit wird.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.