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Vom Maximum zum Minimum

Das Pendel auf dieser Berlinale schlägt weit aus. Auf der einen Seite touchiert es das Maximalkino, auf der anderen Seite das Minimalkino. Wenders Film "Pina" über das Wuppertaler Tanztheater hatte Premiere.

Von Christoph Schmitz | 16.02.2011
    Maximaltag im Wettbewerbsprogramm war der vergangene Sonntag. Der Tag des 3D-Films. XXL fürs Auge. Visuelle Show in Formel 1-Format. Doch die Regisseure, die sich am Sonntag des Maximaleffekts bedienten, wussten die Hybris der Technik zu bändigen und ästhetischen Mehrwert aus der neuen Kinomode zu saugen, zwei Größen den deutschen Autorenfilms: Wim Wenders und Werner Herzog. Herzog führt uns in seinem Dokumentarfilm durch das Höhlenlabyrinth von Chauvet in Südfrankreich zu den ältesten Höhlenmalereien der Welt. Die 470 Tier- und Symboldarstellungen sind über 30000 Jahre alt, nur wenige Wissenschaftler dürfen die in den 90er Jahren entdeckte Sixtinische Kapelle der Steinzeit vor Ort betrachten, und wir - im 3D-Kino. Immer wieder meint man sich ducken zu müssen, um mit dem Kopf nicht anzustoßen, ist man versucht, die Hand auszustrecken, um die Körperlinien der Löwen, Mammuts und Wildpferde zu berühren. Frisch, lebendig, ja in Bewegung wirkt dieser Kunst- und Ritualkosmos, so wie Herzog ihn präsentiert, trotz der mitunter schwadronierenden Kommentare des Regisseurs. Und auch Wim Wenders lässt uns mit seiner 3D-Dokumentation "Pina" über das Wuppertaler Tanztheater der kurz vor Dreharbeiten 2009 verstorbenen Pina Bausch zu intimen Beobachtern ihrer bewegten Körper-Kunst werden. Wie die Bausch-Tänzer mit dem Raum kommunizieren und im Raum aufeinander reagieren, dass könnte man sonst nur erfahren, wenn man selbst auf der Bühne stünde. Wim Wenders:

    "Und das war unser Ziel: In die Körperlichkeit der Tänzer hereinzukommen und den Raum, ihre wirkliches Element, für eine Film mitzuerobern."

    So zeigte sich, dass die 3D-Technik auch dem Autorenkino ein neues Alphabet sein kann und nicht dem Effektekino aus Hollywood vorbehalten bleiben muss.

    Am Montag ging es mit dem Maximalkino ohne 3D weiter. Der Russe Alexander Mindadze erzählt in seinem Spielfilm "An einem Samstag" vom Atomreaktor-GAU in Tschernobyl 1986. Ein junger Parteisekretär sieht die Katastrophe, muss in den folgenden 24 Stunden aber Stillschweigen bewahren und als Schlagzeuger einer Band auf der Hochzeit seines Freundes für gute Stimmung sorgen. Laut, hektisch, hysterisch sind Ton und Kamera. Apokalyptisches Getöse des Untergangs.

    Den Großkrieg mit der Wucht des Großdramatikers William Shakespeare inszenierte Lord-Voldemort-Darsteller Ralph Fiennes mit seinem "Coriolanus". Den Shakespeare-Text goss er in einen fiktiven Bürgerkrieg von heute in Südeuropa, wobei das aktuelle Szene-Kostüm dem Text-Körper nicht so recht passte, was unfreiwillige Komik provozierte.

    Am Dienstag, gestern, schlug das Pendel vom Maximum zum Minimum, bis heute Mittag. Es wurde still, ruhig, konzentriert, manchmal auch langweilig. Doch endlich tauchte ein Film auf, der das Format für den Goldenen Bären hat: "Nader und Simin" von Asghar Farhadi. Der iranische Film erzählt vordergründig eine schlichte Trennungsgeschichte zwischen den beiden Titelfiguren, der emanzipierten Simin, die den Iran verlassen möchte, und dem prinzipientreuen Nader, der in Teheran bleiben möchte, vor allem um seinen kranken Vater pflegen zu können. Asghar Farhadi erzählt kammerspielartig nicht nur psychologisch subtil von einer Ehekrise, sondern auch davon, wie religiöse, traditionelle und säkulare Vorstellungen in der iranischen Gesellschaft miteinander ringen. Asgahr Farhadi über seine Kunst:

    "Ich werde durch jeden Film, den ich sehe, geprägt und beeinflusst. Aber es stimmt, dass das italienische Kino eine besondere Stellung hat. Das gilt nicht nur für mich, sondern für viele andere iranische Regisseure und Filmemacher. Und Fellini spielt da eine sehr große Rolle, und da kann es sein, dass ich auch davon beeinflusst bin, ja. Der beste Film, meine Lieblingsfilm, den ich auch in meiner Jugendzeit gesehen habe, ist "La Strada" von Fellini."

    Das Minimum schlechthin erschien mit dem Schwarzweißfilm "Das Turiner Pferd" des Ungarn Béla Tarr. Ein zerfallener Bauernhof in der Ödnis, ein Orkan, der die Welt wegzufegen droht, Vater und Tochter in kargem Wortwechsel beim Kartoffelessen, der Gaul geht ein, der Brunnen trocknet aus, der Tag wird zur Nacht, die Öllampe erlischt für immer, Weltende. Béla Tarrs Meisterwerk - ein finsteres Poem des Untergangs. Vor dem Endspurt gewinnt die Berlinale im Stillstand an dunkler Kraft.