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Vor 50 Jahren: Schock, Angst und Erleichterung

Den Tod von Stalin haben fast alle Menschen als den schwersten, schlimmsten Schlag empfunden. Es schien uns, als ob die ganze Welt zusammengebrochen wäre. Es war ganz aufrichtig, ja? Ich erinnere mich an diesen Tag, wie wir alle erschüttert waren. Das ist vielleicht noch zu leicht, zu milde gesagt. Wir dachten: Das ganze Volk war verwaist. Was jetzt? Wie werden wir weiterleben? Glauben Sie mir, das war nicht von oben befohlen, ja?...

Robert Baag | 05.03.2003
    Viele Menschen waren wirklich erschüttert. Vielleicht dachten sie, Stalin sei unsterblich. Die beweinten ihn aufrichtig. Aber das waren bei weitem nicht alle. Übertreiben wir nicht.

    Zwei Zeitzeugen - zwei ehemalige sowjetische Frontkämpfer. Der Germanist, Dolmetscher und Propaganda-Offizier Vladimir Gall und Lazar' Lazarev, mehrfach verwundeter Stalingrad-Veteran, Schriftsteller und Journalist. Beide erinnern sich an die Stimmung in Moskau, damals - vor einem halben Jahrhundert, als Josif Visarionovic Dzhugashvili starb - besser bekannt und gefürchtet als Josef Stalin, fast dreißig Jahre lang Diktator, Herr über Leben und Tod von rund 170 Millionen Sowjetbürgern. - Aber nicht nur in der UdSSR, auch in den Nachkriegs-Satellitenstaaten, auch in der DDR gab es nicht wenige, denen der der Atem stockte, als folgendes Kommuniqué im Radio verlesen wurde:

    Das Herz des Mitkämpfers und genialen Fortsetzers der Sache Lenins, des weisen Führers und Lehrers der Kommunistischen Partei und des Sowjetvolkes, Iossif Visarionovic Stalin, hat aufgehört zu schlagen.

    Genosse Stalin - überragend sind Sie als Gelehrter! - Alles verstehen Sie, kommen immer auf den Punkt. - Ich aber bin nur ein simpler Sowjet-Häftling - Und mein Genosse... - mein Genosse ist der Wolf im Wald! - Weshalb ich hier bin??? - Auf Ehre und Gewissen: - Ich weiß es nicht, <genosse stalin="">! - Die Staatsanwälte aber haben sicher Recht. - Und deshalb sitz' ich hier im Taruchaner Lande - so wie einst unterm Zaren - Sie!</genosse>

    Auch sie erreichte die Nachricht aus der Hauptstadt des Imperiums - die GULag-Häftlinge im Hohen Norden, im Fernen Osten der UdSSR; sie alle sind Opfer und zugleich Synonym für die Gewaltherrschaft der Stalin'schen Epoche. Auch dort - hinter Stacheldraht - gab es Reaktionen. Der Schriftsteller Anatolij Pristavkin verbürgt sich für diese Geschichte in jenen Märztagen des Jahres '53 aus einer berüchtigten Bezirks-Hauptstadt des GULag, aus Workuta:

    Workuta, das ist eine eher kleine Stadt. Vier, fünf zugige und schneeverwehte Straßen. Auf dem zentralen Platz stand seit den 30er Jahren ein fünf Meter hohes Kirov-Denkmal, dann wurde daraus ein Stalin-Denkmal, das mit ausgestreckter Hand die Richtung weist - genau in die Tundra, wie verstohlen gespöttelt wurde. Und dann geschah ein Wunder: Am Todestag Stalins war in dieser KGB- und Miliz-Stadt Workuta, in der sonst nur Lager-Häftlinge wohnten, auf dem streng bewachten und hell erleuchteten Zentralplatz der Kopf Stalins vom Denkmal abgetrennt und an seine ausgestreckte Hand angeschweißt worden: Ein geköpfter Stalin - so der Anblick - hielt seinen eigenen Kopf von sich weg. Natürlich dachte auch ich erst: Eine Legende! Aber: Die Geschichte ist mehrfach bestätigt! Sozusagen unter den Augen des Wachpersonals riskierten Häftlinge ihr Leben für solch eine phantastische Aktion - nur, um zu zeigen, was sie vom Tyrannen hielten!

    Wie viele Häftlinge in den GULag, die sogenannte Hauptverwaltung für das Lagerwesen, gehen mußten und ihn nicht mehr verließen, wie viele Menschen erst dort oder schon vorher in den Kellern des NKWD, des Volkskommissariats für Inneres, erschossen oder zu Tode gefoltert wurden - läßt sich bis heute nicht exakt nachzählen. Schätzungen schwanken zwischen zehn und fünzig Millionen Opfern, die seit der sogenannten Oktoberrevolution von 1917 auf Veranlassung und Verschulden der Sowjetmacht umgekommen sind. Der Berliner Stalinismus-Experte Wladislaw Hedeler zum neuesten Stand der Forschung:

    Die offizielle Zahl, die heute genannt wird und die aussagt, wieviel GULag-Häftlinge es zum Zeitpunkt von Stalins Tod gab, so beläuft sich diese Zahl auf zweieinhalb Millionen Häftlinge - Männer und Frauen. Das ist natürlich nur die Zahl der Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch am Leben waren in den Lagern.

    Der innere Zirkel der Macht im Moskauer Kreml hatte in jenen März-Tagen '53 ganz andere Sorgen. Denn Stalins Tod hatte die potentiellen Kronprinzen aus dem Politbüro - Berija, Malenkov und Chruschtschov - wohl völlig überrascht. Ebenso wie die Leibwache und das Personal auf Stalins Datscha in Kuncevo am Stadtrand von Moskau.

    Sie fingen an sich Sorgen zu machen um den "chozjajn", den Hausherrn, aus dessen Zimmer seit dem ersten März kein Laut mehr gedrungen war. Sollte man die Tür öffnen und nachsehen oder nicht? Die Angst vor einem möglichen Zornesausbruch Stalins ließ die Bediensteten lange zögern, sehr lange, stundenlang. Dann aber faßte sich einer endlich ein Herz, wie sich Jahrzehnte später im russischen Fernsehen Alexej Rybin erinnert, einer der Leibwächter Stalins:

    Vielleicht ist Stalin schon um sieben Uhr hingefallen, dort im kleinen Esszimmer. Als man sich schließlich hineintraute, schien Stalin die Schritte zu spüren. Und es hatte den Anschein, als versuche er die Bediensteten heranzuwinken. - ‚Was ist mit Ihnen, Genosse S-talin?', fragte man ihn. Aber reden konnte Stalin schon nicht mehr. Einen einzigen, unverständlichen Laut, der klang wie: ‚Däß!' brachte er heraus. Das war's! - Jetzt verständigte man das Politbüro-Mitglied Maljenkov. Der meldete sich nach 30, 40 Minuten und sagte: ‚Ich habe Berija' - das war der Innenminister - ‚nicht finden können. Sucht selbst nach ihm!' - Dann, nach einer Stunde, ruft Berija an: ‚Über die Krankheit Stalins kein Wort nach draußen!

    Ein direkter Befehl vom Chef also. Und alle werden stumm wie die Fische. Niemand hilft! Verstehen Sie?! - Taube Wände ringsum! - Drei Stunden dauerte es , bis medizinische Hilfe gekommen ist. Berija war anwesend. Und fluchte die ganze Zeit nur laut schreiend herum: ‚Was stört ihr hier??! - Ihr seht doch, der Genosse Stalin schläft ganz tief!'

    Von all dem drang nichts nach außen. Noch funktionierte das hermetische System. Wohl dosiert wurde das Land, wurde die Weltöffentlichkeit auf das nahe Ende des Diktators vorbereitet:

    Moskau, den 4. März 1953: TASS gibt am 4. März folgende Mitteilung der Regierung über die Erkrankung des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR und Sekretärs des Zentralkommittees der KPdSU, Josif Wisarionowitsch Stalin, bekannt: Das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR machen Mitteilung von dem Unglück, das unsere Partei und unser Volk getroffen hat - von einer schweren Erkrankung des Genossen Stalin. In der Nacht zum 2. März erlitt Genosse Stalin, als er sich in Moskau in seiner wohnung befand, einen Schlaganfall, der lebenswichtige Zentren des Gehirns erfaßte. Genosse Stalin verlor das Bewußtsein. Zur Behandlung des Genossen Stalin wurden die besten Ärzte herangezogen:Professor Lukomski - Internist, ... Professor Konowalow... Professor Mjasnikov... &

    Eine Epoche neigte sich in diesen ersten Märztagen 1953 unwiderruflich ihrem Ende zu. Sie war maßgeblich geprägt vom unbedingten Macht-Willen des 1879 im georgischen Gori geborenen Josif Dshugashvili-Stalin, eines anfangs eher unauffälligen Kampfgefährten Vladimir Lenins, des Führers der russischen Bolsheviki. Aber erst nach Lenins Tod, 1924, sah Stalin endlich seine Stunde gekommen. Beharrlich arbeitete er sich nach vorn - Wladislaw Hedeler:

    Das System war Mitte der 20er Jahre so weit in seiner Entwicklung, daß es unabhängig von der Kritik an Stalin oder an stalinistischen Führungsstrukturen schon nicht mehr in der Lage war, diesen Mann zu ersetzen. Sondern Stalin hat ja gerade dadurch gewonnen, daß er wissend um die gegen ihn vorhandenen Meinungen und Stimmungen und Oppositionellen, daß er damit geschickt gespielt hat, daß er laviert hat, daß er diese oppositionellen Kräfte gegeneinander ausgespielt hat.

    Unbestritten aber bleibt...

    ... daß dieses System sich über den Terror gehalten hat, durch den Terror gehalten hat und sich auch weitgehend über den Terror definieren lässt.

    Für uns - war Trotzkij der Feind Nummer 1!" - So lautete noch kurz vor seinem Tod vor einigen Jahren das Credo des Pawel Sudoplatov. Jenes Sudoplatov, der als hoher Geheimdienst-Offizier des NKWD dem Spanier Ramon Mercader Ende der 30er Jahre den Befehl erteilt hatte, den ewigen Konkurrenten Stalins, den von Stalin zutiefst gehaßten Lew Davidovic Bronstejn - genannt: Trotzki - in Mexiko mit einem Eispickel zu erschlagen.

    Trotzkij war für Stalin die Verkörperung der Opposition innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Wer in Stalins Sowjetunion nach Trotzkijs Zwangsemigration 1927 in irgendeiner echten oder konstruierten Beziehung zu Trotzkij stand, der war ein Kandidat für das NKWD-Hinrichtungs-Peleton oder - mit ein wenig zweifelhaftem Glück - für eine Häftlingsexistenz im GULag.

    Stalin selbst gab die Richtung vor, wie Widerstand, wie "Feinde" aufzuspüren seien. Hier bei einem Auftritt 1937 im Moskauer Stadtbezirk "Stalinskij", wo er - formal - als Kandidat für die Wahl zum Obersten Sowjet vor einer Partei-Versammlung auftrat. 1937. Die Massenverhaftungen überrollten längst das Land. Stalin jedenfalls hatte für seine Wähler eine Empfehlung parat, wie die idealen Ageordneten des neuen Obersten Sowjets zu sein hätten:

    Sie sollen im Kampf so furchtlos und gegenüber den Volksfeinden so erbarmungslos sein wie - Lenin! Aber es gibt eben Leute unter uns, da kann man einfach nicht sagen, was das für welche sind: Sind sie gut? - Sind sie schlecht? - Steht dieser für das Volk ein bis zum Letzten? - Oder: Ist jener für die Volksfeinde? - Solche gibt es. Auch unter den politisch Aktiven. Auch bei uns, bei den Balschewiki, findet man solche... - Aber das wißt Ihr ja selber, Genossen: In jeder Familie gibt's so 'ne Mißgeburt. - Menschen dieser Art nennt das Volk zutreffend: ‚Weder Fisch noch Fleisch! Mit voller Gewissheit kann ich jedenfalls nicht behaupten, daß es - sie mögen mich schon entschuldigen - unter unseren Abgeordneten-Kandidaten, unseren Funktionären, solche Leute nicht gibt, die genau diesem Typ ähnlich sind, ihrem ganzen Charakter, ihrem Gesichtsausdruck nach...

    Dieser spezifische Stalin'sche Humor - er hatte übrigens auch seine Anhänger im Ausland. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger etwa, der sogar am Dritten Großen Moskauer Schauprozeß 1938 als Beobachter teilnahm und bei Stalin eine Audienz erhielt, Lion Feuchtwanger also erinnerte sich anschließend geradezu zärtlich an Stalin:

    Nun, der erste Eindruck ist der einer ungewöhnlichen Einfachheit. Stalin hat Humor und ist empfänglich für Humor. Man begreift, warum die Massen ihn nicht nur verehren sondern auch lieben. Er ist ein Teil von ihnen, herausgewachsen aus ihnen, der rechte Repräsentant der 170 Millionen dieser Sowjetunion, wie ihn sich der Dichter nicht würdiger ausdenken könnte!

    Stalins Mann fürs Grobe auf dem Weg nach oben war sein Chefankläger Wyschinski, der zur gleichen Zeit - auch ganz einfach im Stil, lediglich ohne Humor - den Rest der alten Mitkämpfer-Garde zu erledigen half:

    Bucharin und Rykov standen über ihre Spießgesellen mit einer Reihe ausländischer Geheimdienste in Kontakt und bedienten sie systematisch. - Jagoda war wie mit Fliegen von deutschen und polnischen Spionen übersät, die er nicht nur deckte - wie er es selbst hier zugegeben hat - sondern mit Hilfe derer er seine eigene Spionagearbeit verrichtete... ...spionskuju rabotu."

    Den heimlichen Regie-Anweisungen Stalins folgend und unter dem Beifall der Claqueure im Kolonnensaal des Mokauer Gewerkschaftshauses schließt Wyschinskijs Tirade mit den Worten:

    Das genau sind sie - diese Fünfte Kolonne, dieser Ku-Klux-Klan, die zerschlagen und erbarmungslos ausgerottet werden müssen! Ihr Spiel ist entlarvt! Die Maske des Verrats ist ihnen heruntergerissen worden! - Erschießen, zerdrücken muß man dieses verfluchte Natterngezücht!

    Es gab kein Entrinnen mehr: Stalins Daumen hatte sich über sie gesenkt.

    Gestern da begrub'n wir zwei Marxisten - Ein rotes Fahnentuch, sie einzuhüllen, - das gab's leider nicht. - Der eine - hieß es - war ein Links-Abweichler - Der andere - hatte keinen Dunst...

    Aber es gab auch eine Zeit, als Stalin selbst Furcht verspürte. Sein Machtwahn hatte Mitte der dreißiger Jahre auch die fähigsten Offiziere der Roten Armee liquidieren lassen. Warnungen seiner Nachrichtendienste vor einem deutschen Überfall hatte er in den Wind geschlagen. Zu sehr bewunderte er seinen deutschen Kollegen Hitler und allzu lange glaubte er an dessen Treue zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939.

    Fast vier Jahre sollte es dauern, bis der Feind aus Deutschland unter gewaltigen Verlusten niedergerungen war. Endlich das Frühjahr 1945 - würden wenigstens jetzt, nach dem hart erkämpften Sieg, die Daumenschrauben im Inneren gelockert werde, nach diesen Millionen Opfern, nach diesem Loyalitätsbeweis der Menschen ihm, Stalin, gegenüber?

    Stalin - der Generalissimus, der Sieger, nun der Führer einer Weltmacht - er gab sich nicht zufrieden. Erneut witterte er Verschwörungen - selbst jetzt, gegen Ende der vierziger Jahre: die sogenannte "Kampagne gegen die Kosmopoliten" - ein Kunstbegriff, der sich banal mit: "Staatlich geförderter Antisemitismus" übersetzen läßt. Dort: eine ominöse "Ärzte-Verschwörung"...

    Nur Stalins Tod, vor genau 50 Jahren, verschonte - wie Dokumente nahelegen - die im Krieg ausgeblutete Sowjetunion vor einer erneuten Repressionswelle.

    Am 9. März 1953 wird Stalin schließlich neben Lenin im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau beigesetzt:

    Das Sowjetvolk nimmt Abschied von seinem großen Führer und Lehrer, dem geliebten Stalin. In diesem Augenblick - es ist wenige Minuten vor 12 Uhr Moskauer Zeit - treffen sich die Gedanken von Millionen, hier auf dem Roten Platz, hier an der Kreml-Mauer, vor dem Lenin Mausoleum, das auch die letzte Ruhestätte Stalins sein wird.

    Die Moskauer Politologin Marina Pavlova-Silvanskaja indes, damals eine 16-jährige Schülerin, hat an diesen 9. März 1953 eine ganz andere Erinnerung:

    Wir haben versucht zum Begräbnis damals zu gehen. Die ganze Gegend, wo diese riesige Schlange stand, war abgesperrt. Und da standen auch große Lastkraftwagen mit Soldaten. Das war ganz im Zentrum von Moskau - die sogenannte Trubnaja-Platz. Wir haben versucht unter die Lastkraftwagen zu klettern, damit wir auch an diese Schlange kommen. Gottseidank ist es uns nicht gelungen. Weil später in den Treppenhäusern, da auf diesem Platz, wir riesengroße Berge von toten Leuten gesehen haben. Die Leichen, die lagen wie Holz in solchen Stapeln. Das war schrecklich. - Das ist so ein Gegend - von beiden Seiten - zwei kleine Hügel. da stand diese Schlange, tausende von Menschen und sie drängten nach vorne. Und da entstand so eine Situation, daß man die Leute einfach mit den Füßen zertrampelt hat. Das werde ich nie in meinem Leben, bis zu meinem Tode nicht vergessen. Und da sind hunderte, vielleicht auch tausende Menschen ums Leben gekommen. Die Zahlen wurden nie veröffentlicht. - Man wußte, daß es ein Desaster war...