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Vorschulreform in Frankreich
Soziale Ungleichheit kompensieren

Mehr Personal, kleinere Gruppen, bessere Lehrerausbildung: Die frühkindliche Bildung in Frankreich soll aufgewertet werden - die Vorschulen sind seit diesem Schuljahr voll ins Erziehungssystem integriert. Besonders sozial benachteiligte Kinder sollen davon profitieren.

Von Suzanne Krause | 16.09.2019
Eine Erzieherin liest Kindern aus einem französischem Märchenbuch vor
Mehr gut ausgebildetes Personal soll die Qualität der Vorschulen in Frankreich verbessern (dpa / Zentralbild / Peter Förster)
Frankreich steht im Bereich frühkindliche Bildung weltweit an der Spitze: 97 Prozent aller Dreijährigen gehen in die Maternelle. Die Reform macht den Vorschulbesuch nun auch für die rund 25.000 Kinder zur Pflicht, die noch zuhause oder in einem privaten Kindergarten sind. Sie leben zumeist in den französischen Übersee-Gebieten – wo es an Einrichtungen und Personal fehlt. Doch auch überall sonst sind viele Maternelle-Klassen überfüllt. Bildungsminister Jean-Michel Blanquer verspricht Abhilfe.
"Wir stellen mehr Personal im Grundschulbereich ein, 2.700 neue Lehrkräfte allein zum diesjährigen Schuljahresstart. Gleichzeitig sorgt der Geburtenrückgang für sinkende Schülerzahlen. Das alles ermöglicht eine bessere Betreuung."
Sozial benachteiligte Kinder fördern
Die Bedeutung der Maternelle für die weitere schulische Karriere werde unterschätzt, sagt Blanquer, die frühkindliche Bildung müsse aufgewertet werden.
"Bei der Einschulung in die Maternelle kennen gerade Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen vier Mal weniger Worte als andere Gleichaltrige. Das muss die Schule kompensieren."
Das meint auch Francette Popineau, Vorsitzende der wichtigsten Lehrer-Gewerkschaft, der SNUIPP FSU. Doch es reiche nicht aus, sagt sie, den Kinder nur neue Worte beizubringen.
"Ein Beispiel: Ein dreijähriges Kind kann sehr wohl Wörter kennen wie "Schuh" oder "Schnürsenkel" oder "Lehrerin". Und dennoch kann es unfähig sein, einen Satz wie "Lehrerin, könntest du mir bitte die Schnürsenkel binden" zu formulieren. Wesentlich ist doch nicht, Wörter anzuhäufen, die man wieder vergisst, sondern seine Gedanken in Worte fassen zu können."
Mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte
Singen und Spiele werden weiterhin den Alltag in französischen Vorschulen prägen, verspricht der Bildungsminister. Neu ist, dass die Hilfskräfte, die dem Lehrpersonal in der Klasse zur Seite stehen, für ihren Einsatz ausgebildet werden.
"Auch bei der Aus- und Fortbildung des Lehrpersonals wird es ab sofort mehr um den neuen pädagogischen und erzieherischen Kurs gehen. Da fließen Erkenntnisse der kognitiven Wissenschaften, die jüngsten wissenschaftlichen Lehren ein."
Speziell aus den Neuro-Wissenschaften. An der Maternelle-Reform mitgearbeitet hat der renommierte französische Neuropsychiater Boris Cyrulnik. Er erforscht, welche Folgen es für Kinder hat, wenn sie im Mutterleib Zeugen von mütterlichem Leid wurden – sei es, weil die Mutter vom Vater geschlagen wurde oder weil die Familie in sozial prekären Verhältnissen lebt. Cyrulnik geht davon aus, dass diese Erfahrungen beim Kind zu epigenetischen Veränderungen führen, die eine Art Dauerstress auslösen. Und das könne sein weiteres Fortkommen zum Beispiel in der Schule behindern. Doch: Diese epigenetischen Veränderungen ließen sich rückgängig machen.
"Die Gehirnplastizität ist so groß, dass ein Kind in einem geschützten, wohlgesonnenen Umfeld innerhalb kurzer Zeit seine Versäumnisse aufholen kann."
Bindungen stärken
Besondere Bedeutung soll in der Maternelle nun der sogenannten "Bindungstheorie" zukommen. Da geht es um das Muster der frühkindlichen Bindung an die Eltern. Bestenfalls fühlt sich ein Kleinkind von den Eltern beschützt, schlimmstenfalls völlig auf sich selbst gestellt. Um negative Bindungsmuster auszuhebeln, werden nun Lehrpersonal und Betreuer entsprechend ausgebildet. In der neuen Maternelle geht es nicht mehr nur um Bildung, sondern auch um Bindungen.