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VW-Skandal
Und die Moral von der Geschicht'?

Ein Begriff, der geradezu einen Platz im nationalen Tugendkatalog hatte, war mal das "Made in Germany". Die hohen Erwartungen an etwas, das made in Germany ist, sind schon lange gesunken. Aber die Affäre VW zeigt, dass es noch ein Grundvertrauen gibt, das zu erschüttern ist. Burkhard Spinnen erklärt, warum das nicht schlecht ist, mit der Erschütterung.

Von Burkhard Spinnen | 24.09.2015
    Ein VW-Logo ist auf einem Schild eines Volkswagen-Händlers in Hannover angebracht
    Wir haben einen Skandal, meint Burkhard Spinnen. (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
    Skandal!
    Was wissen wir eigentlich bis jetzt? Dass Volkswagen getrickst hat. Gut. Und wer war dafür verantwortlich? Wissen wir nicht. Tricksen auch die anderen Autohersteller? Wissen wir ebenfalls nicht. Und wie steht es um die Umweltwerte von Kühlschränken, Klimaanlagen und so weiter? Stimmen die? Keine Ahnung.
    Aber eines ist sicher: Wir haben einen Skandal. Und ich sage Ihnen jetzt: Das ist scheußlich, aber das muss so sein. Skandale sind nämlich in einer entwickelten und hochkomplexen Gesellschaft nicht bloß Pannen und Störungen, sie sind vielmehr der womöglich einzige, sicher aber der wirkungsvollste Modus, um Veränderungen herbeizuführen.
    Ja, Sie hören recht: Ich bin ein Befürworter des Skandals. Das war ich nicht immer. Vor zehn, fünfzehn Jahren hätte ich mich für einen Skandal wie diesen noch in den Boden geschämt. Aber ich habe umgelernt.
    Revolution 2.0
    Heute weiß ich, dass der Skandal unverzichtbar ist. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Vorgänger des Skandals. Das war die Revolution. Da wurde alles, was schlecht war, niedergemacht und neu erfunden. Doch damit wurde auch viel Gutes zerstört. Seien wir ehrlich: Die Revolution war kein Erfolgsmodell.
    Unser heutiges Staatswesen setzt vielmehr auf Kontinuität, Ausgleich und langsame Entwicklung. Das ist sicher die bessere Lösung, aber sie ist nun wirklich nicht perfekt. Es gibt auch bei uns eine Neigung zum Schlendrian, zum mafiotischen Wegsehen und zur Kungelei. Und deshalb braucht es überall gelegentlich eine kleine Revolution. Keine universelle, die alles wegfegt und nur Trümmer hinterlässt, sondern eine partielle, die zwar radikal, aber begrenzt ist.
    Diese Revolution 2.0 ist der Skandal. Innerhalb eines Skandals mahlen die ansonsten gemächlichen Mühlen von Politik und Obrigkeit aller Art plötzlich außerordentlich schnell. Köpfe, die festzementiert schienen, rollen rasch, und Veränderungen, für es sonst drei Legislaturperioden gebraucht hätte, vollziehen sich in wenigen Arbeitstagen.
    Der Skandal ist bösartig und negativ
    Ich glaube, der Skandal ist in der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft an die Stelle dessen getreten, was die frühen Kommunisten die permanente Revolution nannten. Natürlich tritt er nicht so martialisch auf. Der Skandal trägt keinen Ledermantel, sondern ein Laptop, er kämpft nicht mit Gewehren, sondern mit Daten-CDs. Dafür ist er effizienter. Er implantiert der gemütlichen Demokratie einen Entzündungsherd und zwingt sie dazu, aktiv zu werden. Er bricht auf und bricht ab, ohne gleich alles niederzureißen. Der Skandal ist bösartig und negativ, aber er stärkt am Ende das System.
    Was, Sie glauben das nicht? Sie glauben, unsere Gesellschaft müsste nach ihren selbst gesetzten Regeln einfach so funktionieren, tagaus, tagein, brav und regelkonform. Also, wenn Sie wirklich glauben, das wäre möglich, dann ist das ein Skandal.