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Wagner als Sündenbock

Wagners Bühnenweihfestspiel "Parsifal" erhielt in Stuttgart viel Applaus - allerdings nur für Sänger und Orchester. Calixto Bieitos Hau-Drauf-Theater kam beim Publikum nicht an - vielleicht weil es merkte, dass der Skandalregisseur den "Parsifal" schlichtweg für Unsinn hält.

Von Christoph Schmitz | 29.03.2010
    Bei Wagner streiten die Gralsritter für das Gute in der Welt. Bei Calixto Bieito sind die Gralsritter eine verkommene und brutale Meute, die unter der Ruine einer Autobahnbrücke zwischen verkohlten Bäumen im Dreck haust. Bei Wagner hat der Herr der Gralsburg, Amfortas, im Kampf gegen den bösen Zauberer Klingsor eine herbe Niederlage einstecken müssen. Eine schwärende Wunde ist Amfortas geblieben, den heiligen Speer hat er an Klingsor verloren. Am Ende hat Parsifal diesen Speer wiedergewonnen und heilt mit seiner Spitze Amfortas' Verletzung. Bei Calixto Bieito ist Amfortas am Anfang unverletzt und wird zum Schluss von Parsifal mit dem Speer getötet. Bei Wagner versucht Gurnemanz als altersweiser Gralsritter die von Klingsor bedrohte Gemeinschaft samt ihrer jungen Mitglieder zusammenzuhalten. Bei Calixto Bieito ist Gurnemanz ein autoritärer Pfaffe, der einem Knaben das weiße Gewand vom Leib reißt, ihn mit dem Gürtel zuerst blutig, dann totschlägt. Bei Wagner erschießt der naive Parsifal im heiligen Bezirk der Gralsburg einen Schwan, dessen Tod von der Gemeinschaft betrauert wird. Bei Bieito wird das von Gurnemanz erschlagene Kind wie ein toter Schwan davongetragen, hinter einer Zinkwanne von den Gralsrittern zerhackt und verspeist. Bei Wagner führt Gurnemanz Parsifal in den innersten Bezirk der Gralsburg, wo die Zeit zum Raum wird, bei Bieito wird Parsifal mit einer Pille in einen Drogenrausch versetzt. Bei Wagner werden die Ritter durch den Gral für ihren Einsatz in der Welt gestärkt. Bei Bieito verteilt Amfortas Devotionalien aus Blech und Gips, Marienfiguren, Kreuze, Buddhastatuen, Chanukkaleuchter, muslimische Gebetsketten, Schalen für Räucherwerk und Krishnabilder, mit denen die Kannibalen zuerst innige Heilserwartungen verbinden, sie aber dann achtlos wegwerfen und stattdessen Schilder mit Aufschriften hochhalten wie: "Wo ist Gott", "Befreie mich", "Rette mich" oder "Erleuchte mich".

    So geht es über vier Stunden. Die Blumenmädchen sind vergewaltigte Huren, Kundry ist schwanger, Parsifal wird am Ende wie ein esoterischer Sektenführer eingekleidet, mit den bekannten Devotionalien geschmückt und auf einem Gepäckwagen über die Bühne geschoben, nachdem er den toten Amfortas und dessen ermordeten Vater Titurel wieder zum Leben erweckt hat. Die guten Sänger müssen den Endzeitklamauk mitmachen. Gregg Baker als Amfortas und Stephen Milling als Gurnemanz voluminös, raumgreifend und eindringlich, Christiane Iven als Kundry sonor, Andrew Richards als Parsifal und Claudio Otelli als Klingsor intensiv bis expressiv.

    "Herauf! Herauf! Zu mir! Dein Meister ruft dich, Namenlose. Urteufelin! Höllenrose!"

    Der Stress, der die Inszenierung den Sängern macht, ist ihnen oft anzuhören. Auch das fabelhafte Orchester unter der Leitung von Manfred Honeck leidet bisweilen unter dem Inszenierungsdruck, gleitet ins Pompöse und verliert an Feingefühl.

    Was aber will uns Calixto Bieito mit seiner Inszenierung sagen? Vor allem, dass alle böse sind: Priester, Religionen, die ganze Menschheit. Und wer ist an allem schuld? Vor allem die Pfaffen, die den Menschen einreden, dass sie jemand erlösen könne. Calixto Bieito hat aber noch einen anderen Übeltäter im Visier. Als der Guru-Parsifal im dritten Aufzug mit dem ganzen Kultschnickschnack dekoriert wird, bekommt er auch eine Wagner-Büste. Die schaut er an und singt ihm, dem Komponisten, alle Schuld für das Elend zu:

    "Welcher Sünden, welches Frevlers Schuld muss dieses Torenhaupt seit Ewigkeiten belasten."

    Wagners aus christlichen, buddhistischen und Schopenhauerschen Motiven gespeistes Bühnenweihfestspiel ist also der Sündenbock. Darum hält Bieito den "Parsifal" schlichtweg für Unsinn, was er den ganzen Abend lang ausgiebig demonstriert und damit pauschal wie dumm am Werk vorbeiinszeniert. Hat ihn jemand zur Regie gezwungen?