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Wegbereiter der modernen Sozialpolitik

Wie kein Zweiter hat Wilhelm Emmanuel von Ketteler das soziale Gewissen der Christen geprägt. Seine Forderungen sind auch heute hochaktuell: menschenwürdige Löhne, Sozialpflichtigkeit von Vermögen, Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Am 25. Dezember 1811 kam er in Münster zur Welt.

Von Hajo Goertz | 23.12.2011
    "Eine Aufgabe für die nächste Zukunft rege ich an, die Aufgabe der Religion bezüglich der sozialen Verhältnisse. Die schwerste Frage, die bei allen gesetzlichen Bestimmungen, bei allen Staatsformen noch nicht gelöst ist, das ist die soziale Frage."

    Das Publikum im dicht besetzten Akademiesaal des ehemals kurfürstlichen Schlosses zu Mainz folgt gebannt dem bis dahin kaum bekannten Pfarrer aus dem münsterländischen Hopsten. Er gehört zu einer Delegation katholischer Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche, die im Oktober 1848 auf dem ersten Katholikentag von den Beratungen der Nationalversammlung berichten, vor allem über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Der westfälische Pfarrer gibt sich überzeugt:

    "Es wird sich zeigen, dass der katholischen Kirche die endliche Lösung der sozialen Frage vorbehalten ist; denn der Staat, mag er Bestimmungen treffen, welche er will, hat dazu nicht die Kraft."

    Monate zuvor haben Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrem "Kommunistischen Manifest" das Elend des Proletariats in der beginnenden industriellen Revolution auf die politische Tagesordnung zu bringen versucht; nun will der Spross einer westfälischen Adelsfamilie seine Kirche auf entschiedenes Engagement für die Arbeiterfrage einschwören. Kaum zwei Jahre später ist Wilhelm Emmanuel von Ketteler Bischof von Mainz. Sein heutiger Nachfolger, Kardinal Karl Lehmann, betont

    "… diese ungeheure Sensibilität, die er schon als junger Pfarrer, ja schon als Kaplan in Westfalen also gehabt hat. Ich habe auch ganz neu kennen gelernt, dass dieser westfälische Adel schon immer ein näheres Verhältnis also hatte zu sozialen Problemen. Man sagt mir, die waren nicht so groß wie die ostpreußischen Junker, die kannten ihre Leute wie in einer Familie. Und deswegen waren sie imstande, auch die Nöte der Leute zu erkennen, das war ja bei ihm wirklich sehr gut."
    Seit 1850 hat der Mainzer Bischof Ketteler unermüdlich die Gläubigen seiner Diözese und die Katholiken in den deutschen Staaten gemahnt, dem allenthalben flüchtigen Glauben die engagierte Praxis der Nächstenliebe entgegenzusetzen und so die vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen anzugehen:

    "Er hat zum Beispiel ja am Anfang mit einer ungeheurer beeindruckenden Radikalität geglaubt, wenn man zu einem intensiver gelebten Christentum zurückkommt, dann kann man auch alle die Probleme ohne Staat lösen."

    Am Weihnachtstag 1811, vor 200 Jahren, ist Ketteler als sechstes von neun Kindern seiner adeligen Eltern in Münster geboren. Als Jurist tritt er zunächst in den preußischen Staatsdienst ein, quittiert den Dienst jedoch 1838 aus Protest gegen die in seinen Augen willkürliche Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August zu Droste Vischering im Jahr zuvor, und schlägt die geistliche Laufbahn ein. Schon als Kaplan und Pfarrer erwirbt er sich hohes Ansehen, sodass man ihm ein politisches Mandat in der Frankfurter Paulskirche zutraut. Die soziale Frage, das Verhältnis von Kirche und Staat, von Religion und Gesellschaft, Schule und Familie werden seine Themen. Kardinal Lehmann:

    "Er hat doch sehr klar erkannt, dass mit der aufkommenden Frühsozialisierung der Zusammenbruch der gesellschaftlicher Verhältnisse, aber auch der Familie als Träger der Wirtschaftlichkeit sehr schnell zusammengebrochen ist und man da sehr schnell Hilfe geben musste."

    In Predigten und Reden, in Hirtenbriefen und umfänglichen Schriften schildert Ketteler das Schicksal der Arbeitslosen, Tagelöhner und Wanderarbeiter, der Kinder aus armen Familien und der Waisen, der sexuellen Übergriffen ausgesetzten Dienstmädchen in den Bürgerhaushalten. Und er schafft zu deren Unterstützung entsprechende Sozialeinrichtungen. Immer wieder ruft er die Gläubigen auf, dafür zu spenden. Doch bald muss Ketteler einsehen, dass höchstes Engagement der Kirche und offenherzige Nächstenliebe der Christen allein nicht ausreichen:

    "Dann hat er irgendwo erkannt, dass es so Dimensionen annimmt, wenn man mit üblicher Nächstenliebe und Almosengeben eigentlich nicht durchkommt, da hat er entschieden wahrgenommen, dass man über Wohltätigkeit allein, über Sozialreformen allein eine regelrechte Sozialpolitik schaffen muss. "

    Wenn Ketteler auch selbst mit konkreten Vorschlägen für eine Sozialpolitik des Staates nicht sehr erfolgreich war, bleibt doch sein Verdienst, dafür Ansätze geliefert zu haben. Sie wirken bis heute nach. Um nach Lösungen der sozialen Schieflagen zu suchen, scheut Ketteler weder vor Kontakten zu sonst in der Kirche beäugten Sozialdemokraten und Sozialisten zurück noch vor radikal erscheinenden Analysen. In einer berühmten Rede vor 10.000 Arbeitern bei Offenbach erklärt er im Juli 1869:

    "Nicht der Kampf zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeiter muss das Ziel sein, sondern ein rechtmäßiger Friede zwischen beiden. Die Gottlosigkeit des Kapitals, das den Arbeiter als Arbeitskraft und Maschine bis zur Zerstörung ausnützt, muss gebrochen werden. Sie ist ein Verbrechen am Arbeiterstande und eine Entwürdigung desselben. Sie passt nur zur Theorie jener Menschen, die unsere Abstammung vom Affen ableiten."

    Ketteler gehört zu den ersten in der katholischen Kirche, die Gewerkschaften für notwendig halten, damit die Arbeiter wirksam ihre berechtigten Forderungen durchsetzen könnten. Der Lohn der Arbeit bemesse sich am Lebensunterhalt für den Einzelnen und seine Familie. Mit seinen Überlegungen zur Beteiligung der Arbeiter an Unternehmen und ihren Gewinnen, zum nachhaltigen Gebrauch des Eigentums, zur Sozialpflichtigkeit von Vermögen, legt der Mainzer Bischof als einer der ersten Kirchenlehrer Grundlagen für die Entwicklung der katholischen Soziallehre. Sie gehört seit der Enzyklika "Rerum novarum" von 1891 zum festen Bestand päpstlicher Lehräußerungen und hat sich zur theologischen Disziplin entwickelt.

    "Pius IX. hat einmal gesagt, er hat in diesen Dingen eine bessere Feder als ich. Und Leo XIII. hat im Zusammenhang von 1891, Rerum novarum, mal den Ausspruch getan, also er ist einer meiner Vorläufer…"

    Ketteler verehrte den Papst seiner Bischofszeit, Pius IX., geradezu kindlich. Das hinderte ihn nicht, die von Pius betriebene Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1870 kritisch zu hinterfragen. Noch vor der Abstimmung der Konzilsväter reist der Mainzer Bischof wie zahlreiche andere deutsche Oberhirten aus Rom ab. Für nachfolgende Abspaltungen wie den Altkatholizismus hat Ketteler kein Verständnis. Aber er hat dann doch einige Mühe, seine persönliche Zurückhaltung gegen ein unzeitgemäßes Dogma mit dem Werben um die Zustimmung der Gläubigen zu verbinden.

    "Ketteler war auch die Freiheit im Innern der Kirche wichtig. Seine Stellungnahme im Blick auf das Vaticanum I war, glaube ich, stark davon her mitbestimmt… Ihm war das sogenannte organische Kirchenverständnis ganz wichtig. Man darf Papst und Bischöfe nicht so voneinander trennen, dass man zum Beispiel ein eigenes Schema nur über den Papst und sein Primat und seine Unfehlbarkeit macht."

    Erläutert Kardinal Lehmann, der nach eigenen Forschungen überzeugt ist, dass hier kein Bruch im Denken und Glauben Kettelers vorliegt:

    "Gott sei Dank weiß man heute durch die Forschungen, dass Ketteler persönlich von dieser Stellung des Papstes, die unter Umständen unter bestimmten Bedingungen Unfehlbarkeit einschließt, eigentlich immer überzeugt war. Vielleicht ist das Wort von der Opportunität nicht ganz ausreichend, er meinte einfach, das ist jetzt nicht notwendig in dieser Isolierung der Unfehlbarkeitsfrage."

    Mit seiner Überzeugung, dass die päpstliche Unfehlbarkeit nur in Verbindung mit der Kollegialität der Bischöfe recht verständlich wird, ist Ketteler auch ein Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 1960er-Jahren. Auf einer Rückreise von Rom erkrankt Ketteler 1877 und stirbt.