Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Wegweiser aus sechs Jahrhunderten

Archive. - In der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen befindet sich der bundesdeutsche Sammelschwerpunkt für thematische Karten. Über Hunderttausende von Einzelblätter und ein paar Tausend Atlanten werden hier archiviert.

Von Michael Stang | 04.12.2008
    "Also, wir haben hier neue Räume bekommen und haben jetzt das Glück, dass praktisch der gesamte Bestand in diesem Areal zusammengefasst ist."

    Mechthild Schüler führt durch die Kartensammlung im historischen Gebäude der Staats- und Universitätsbibliothek. Im ersten Stock geht die Geografin eine kleine Metalltreppe hoch. Mit einem großen Schlüsselbund bewaffnet schließt sie die Tür zu einem der Magazine auf. Hier sind 35.000 Kartenblätter archiviert. Schüler:

    "Wir haben hier unsere Kartenschränke, die historisch praktisch immer peu à peu gekauft wurden, auf eine Kompaktusanlage gestellt und haben damit dann die Möglichkeit bekommen sehr viele Kartenschränke auf einer ganz kleinen Fläche unterzubringen. Und dadurch haben wir es geschafft, dass alle alten Karten hier komplett zusammen liegen und unter sehr guten Bedingungen aufbewahrt werden können."

    Einen Raum weiter befindet sich das Magazin, in dem die alten Karten gelagert werden. Hier liegen ausschließlich historische Einzelblätter. Die ältesten stammen aus dem 16. Jahrhundert und werden mit besonderer Vorsicht archiviert. Schüler:

    "Also der Raum ist alarmgesichert, direkt zur Polizei zu allen Seiten. Und die Karten sind eben alle restauriert, die sind alle sauber, da ist kein Schimmel, da ist kein Kupferfraß oder so was mal dran und zwischen jedem Kartenblatt liegen säurefreie Papiere, dass nie zwei Karten aufeinander liegen."


    Bei den ältesten Exemplaren handelt es sich um handgezeichnete Karten; aber auch einige der ersten Wiegendrucke liegen hier in Göttingen. Mechthild Schüler hat den gesuchten Schlüssel zu einem der Kartenschränke gefunden und holt ein Exemplar aus dem 17. Jahrhundert hervor, eine etwa DINA2 große, reich verzierte Karte.

    "Um mal zu zeigen, was hier so liegt. Das hier sind zum Beispiel alte Weltkarten "

    Man erkennt einzelne Erdteile, jedoch sind die Grenzverläufe etwa von Amerika noch anders als heute; die Erde als ganzes ist jedoch schon als Kugel dargestellt. Am Rand sieht man zahlreiche Phantasiefiguren, um leere Stellen auszufüllen. Ich frage sie nach ihrer Lieblingskarte. Schüler:

    "Vom Harz gibt’s ne ganz tolle…Walpurgis…und dann fliegen, um den Brocken fliegen noch lauter kleine Walpurgishexen und solche Sachen rum. Das ist wirklich ganz nett, das ist wirklich hübsch."

    Einen Maßstab gibt es bei diesen alten Karten noch nicht. Das kam erst später, sagt Mechthild Schüler, verkompliziert paradoxerweise jedoch meist die Archivierung historischer Karten, schließlich muss jeder Benutzer nachvollziehen können wie lang die angegebene Meile tatsächlich ist. Schüler:

    "Wir haben bei den deutschen Karten eigentlich fast auf jedem Kartenblatt einen anderen Maßstab. Also, wenn wir die katalogisieren, dann müssen wir wirklich historische Forschung betreiben, weil jede Meile eine andere Maßzahl ist und eben nicht eine standardisierte Meile."

    Nicht alle Karten gibt es als Einzelblätter, sondern oft auch als Sammelwerke in Atlanten. Diese liegen in der Handschriftenabteilung. Schüler:

    "Ja, das sind Atlanten und Einzelblätter, das zeige ich Ihnen mal. Hier das ganze jetzt noch mal in größerem Stil und unter uns ist der gleiche Raum noch mal, auch so bestückt wie dieser und hier liegen rund 300.000 Einzelblätter, also mit Erscheinungsjahr nach 1945."

    Sämtliche thematische Karten findet man hier: Sprachatlanten, historische, geologische oder geophysikalischen Atlanten aus der ganzen Welt. Einzig Seekarten sucht man vergeblich. Um die riesige Sammlung mit aktuell knapp 7000 Atlanten und weit über 300.000 Kartenblättern kontinuierlich aufzustocken, bezieht die Göttinger Sammlung Sondermittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dadurch können Mechthild Schüler und ihre Kollegen jedes Jahr rund 5000 Einzelblätter und 200 bis 300 Atlanten erstehen, die Neuerscheinungen.

    Da es in Deutschland keine Nationalbibliothek gibt, wurde Göttingen nach dem Krieg als thematische Kartensammlung bestimmt. Die Staatsbibliothek Berlin hingegen ist für die topographische Sammlung verantwortlich. Durch die DFG-Mittel war es auch möglich, ein besonderes Prunkstück zu erstehen. Schüler:

    "Also, wir haben hier die geologischen Karten 1:200.000 der ehemaligen Sowjetunion und die ist wohl damals nach der Öffnung der Sowjetunion mehr oder minder unter der Hand verkauft worden von ehemaligen Offizieren und es gibt nur ganz wenige Exemplare."

    Mechthild Schüler zufolge gibt es in ganz Mitteleuropa außer in Göttingen nur noch in Zürich ein weiteres Exemplar. Um diesen Glücksfall beneiden sie viele Kartensammlungen.

    "Das gibt’s eben einfach nicht mehr, das war damals, innerhalb weniger Tagen musste man sich entscheiden: schlagen wir da zu oder schlagen wir nicht zu, und das ist was, was schon was Besonderes ist."

    Der Eilantrag auf Sondermittel bei der DFG wurde gewährt. Für einen sechsstelligen D-Mark-Betrag kamen die über 5000 Blätter vollständig und unversehrt nach Göttingen. Heute kann sie über die halbe Nacht- und Nebelaktion lachen.

    "Das war also alles ein bisschen abenteuerlich, ja?"
    echthild Schüler zeigt eine Karte mit Gebirgsformen der Bayrischen Alpen.
    Mechthild Schüler mit Karte. (Michael Stang)
    Manche der historischen Atlanten, die Mechthild Schüler in Göttingen in die Hand nimmt, wiegen 15 Kilo.
    Mechthild Schüler mit Atlas. (Michael Stang)