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"Weiter träumen" in Zürich

Während der Diplomat Karl Bockmann nach einem Unfall oder Überfall im Koma liegt, treffen vor seinem Zimmer auf der Intensivstation Menschen aus seinem Leben aufeinander. Menschen, die sich zum Teil zuvor nicht kannten und jetzt auch nicht richtig kennenlernen, sondern sich in ihrer Fremdheit austauschen.

Von Hartmut Krug | 23.10.2011
    Da ist die etwa 40-jährige Rechtsanwältin Ursula, die den Patienten gefunden hat und sich als eine seiner Geliebten entpuppt. Im Gespräch mit dem Stationsarzt reflektiert sie, das blutige Gesicht des Komapatienten als tierisch erinnernd, über das menschliche Wesen:

    Ursula: "Ein Mikromillimeter Haut. Und direkt darunter: Fleisch, Sehnen, Muskelgewebe, Lymphflüssigkeit. Da ist nichts Individuelles mehr erkennbar. Als hätten wir uns als Mensch verkleidet."

    Arzt: "Ich kann ihnen ein Sedativ mitgeben. Chloralhydrat. Oder Benzodiazepin."

    Ursula: "Am besten Somnosan. Ximovan geht auch."

    Arzt: "Sind sie in der Pharmazeutik tätig."

    Ursula: "Allgemeinbildung."

    Ein Weihnachtsbaum steht in der Ecke des nüchternen Krankenhausflures bereit: Die Zeit der Besinnung über Lebenssinn, Wandel und Vergänglichkeit steht vor der Tür. So denken, fantasieren, erinnern und träumen sich die Figuren durch ihre Leben und die Gegenwart. Was hier Gegenwart, was Vergangenheit, was Realität, was Traum ist, bleibt in der Schwebe. Während die junge Krankenschwester Sinatras "My way" hört, kommt der Komakranke, ein älterer Mann, aus seinem Zimmer und vereint sich mit ihr zu aufschwellender Filmmusik im langen Kuss. Ein Sehnsuchtstraum. Ein junger Mann informiert seine tote Freundin telefonisch darüber, wie er ihr Auto so manipuliert hat, dass sie auf der Fahrt zu ihrem Neuen tödlich verunglückte.

    Hildegard, die etwa 40-jährige Tochter des Kranken, macht auf der Suche nach ihrem Selbstbewusstsein den Stationsarzt an, wie ohnehin alle Frauen, zu denen noch eine junge Geliebte des Kranken gehört, sich als suchend Vereinsamte in einer sexualisierten Welt zu behaupten suchen. Nur Silvia, die Ehefrau des Diplomaten, zählt nicht mehr als Teil der Kampfgesellschaft, denn sie ist alt und wird deshalb von ihren Geschlechtsgenossinnen abgeschrieben.

    Thomas Jonigk hat das Stück für die 71-jährige Silvia Fenz geschrieben und ihr damit eine Rolle geschenkt, in der endlich einmal eine ältere Frau im modernen Drama weder skurril noch verbittert, also eine komische Alte sein muss, sondern ein Mensch mit noch immer normalen Bedürfnissen nach Nähe, Liebe und, ja, durchaus auch nach Sexualität sein darf. Ein Traum, was sonst, aber ein realer Traum. Die zarte und kleine Silvia Fenz spielt mit dem jungen, hochgewachsenen Fritz Fenne nicht gleich ein Paar, sondern eine Begegnung. Die durch die wunderbar intensive Lakonik der Darstellerin und die zurückhaltende Präsenz ihres Partners die schwebende Selbstverständlichkeit eines offenen Suchprozesses erhält. Silvia will ihren Mann verlassen:

    Silvia: "Die Ärzte geben mir Anlass zur Hoffnung. Sie sagen, dass mein Mann wieder bald ganz der Alte sein wird. Können Sie mir sagen, weshalb die Vorstellung, mein Mann könnte als der zurückkehren, der er 42 Jahre lang gewesen ist, mir so viel Angst macht? Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Wir kennen uns überhaupt nicht."

    Hans: "Ich liebe Sie auch."

    Am Schluss werden die beiden tun, was der Stücktitel sagt: Weiter träumen.

    Thomas Jonigk hat kein großes, aber ein sehr bühnenwirksames Stück geschrieben. Eine Komödie, die ihren tieferen Sinn in grotesken Situationen aufscheinen lässt und auch vor Banalitäten und Klischees nicht zurückschreckt. Kein psychologisches Entwicklungsstück sondern eine Montage aus Situationen, psychologischen Bruchstücken und Augenblickshaltungen.

    Das Regisseur Christoph Loy sehr sensibel als realistisch unwirklichen, leichten Traum inszeniert. Da der junge Hans von Orang-Utans schwärmt und Silvia eine Affenpuppe schenkt, lässt er einen Orang-Utan durch die Szenen geistern. Das treffliche Ensemble trifft alle Zwischentöne und gibt das pointenreiche Spiel als eine unterhaltsam konzentrierte, unaufgeregt dramatische Versuchsanordnung. Ein Schauspielerstück eben.

    Link:
    Schauspielhaus Zürich