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Wenig Stars und neue Filme

Für eine richtige Bilanz ist es in Venedig noch viel zu früh. Seit Mittwoch erst und bis zum kommenden Samstag laufen am Lido die 69. Filmfestspiele. Im Rennen um den Hauptpreis, den Goldenen Löwen, ist zum Beispiel der Österreicher Ulrich Seidl. In Venedig hat er den zweiten Teil seiner Trilogie mit dem Ober-Titel "Paradies" vorgestellt.

Von Josef Schnelle | 01.09.2012
    Wie programmiert man ein Festival? Ein Eröffnungsfilm, mit dem alle leben können. Dann starke Filme am ersten Wochenende. Vielleicht sogar ein paar Stars für den Roten Teppich, der in Venedig keine Treppe hoch oder runtergeht, sondern eher einer Promenade gleicht. Großer Publikumshype ist hier nicht zu erwarten - weswegen man das kleine Mäuerchen zwischen Publikum und Stars schön niedrig halten konnte.

    Echte Stars waren bisher sowieso kaum da, abgesehen von Kate Hudson, die im Eröffnungsfilm "Der widerwillige Fundamentalist" eine der Hauptrollen spielt. Im Zentrum dieses Films von Mira Nair, der fast ausschließlich mit den Fördermitteln des Doha Film Institutes entstanden ist, steht aber Chengez Khan, ein freundlicher Pakistani aus London. An der New Yorker Wall Street will die Filmfigur ihr Glück machen. Doch nach den Ereignissen des 11. September 2001 ist der amerikanische Traum bald zu Ende. Zurück in Lahore wird er ein begnadeter Universitätsdozent, sympathisiert mit dem Djihad und kritisiert die Überfremdung durch den Westen. Schon seine Gefühle beim Attentat auf die Zwillingstürme waren widersprüchlich gewesen. Bei aller Kritik kann sich Chenges Khan einer gewissen Faszination für den Angriff Davids gegen Goliath nicht erwehren.

    Mira Nairs Film will es allen Recht machen. Fundamentalisten sind die Finanzjongleure der Wall Street ebenso wie die Terroristen der Taliban. Chenges Khan hält Distanz zu beiden - was gut gemeint, aber filmisch kaum aufregend ist. Für Eröffnungsfilme gelten eigene Gesetze. Wenn auch Mira Nairs Film wenig Glanz an den Lido brachte, so setzte er doch ein politisches Zeichen. Alberto Barbera ist wieder zurück. Er hatte nach dem überraschenden Abgang von Marco Müller, der als williger Vollstrecker von Silvio Berlusconis Medienpolitik galt, auf die Schnelle ein passables Programm auf die Beine gestellt. Er hat es kurz und überschaubar gehalten.

    Einen ersten Höhepunkt steuerte der russische Regisseur Kilill Serebrennikov bei mit "Izmena" – Betrug. Ein Mann und eine Frau müssen entdecken, dass ihre jeweiligen Ehepartner eine leidenschaftliche Affäre miteinander haben und fühlen sich selbst in eine ebensolche getrieben. Nachher wendet sich das Blatt in diesem extrem stilisierten russischen Film, der von der deutschen Hauptdarstellerin Franziska Petry wesentlich getragen wird. Die Liebe ist ein Wechselspiel: wenn man sie zu ernst nimmt drohen Schmerz und Tod.

    Dass der zweite Film aus der Trilogie des umstrittenen Österreichers Ulrich Seidel in Venedig laufen würde, das pfiffen schon vor ein paar Monaten die Spatzen von den Dächern als er in Cannes mit "Paradies: Liebe" überraschte – der Geschichte einer Sextouristin in Kenia. "Paradies: Glaube" läuft nun im Wettbewerb von Venedig und ist kaum weniger radikal und gefühlskalt. Maria hat sich nach der Trennung von ihrem muslimischen Mann in einen katholischen religiösen Wahn geflüchtet. Sie kasteit sich und himmelt Jesus am Kreuz an. Dieser Glaube ist unverhohlen sexuell aufgeladen. Dann besucht sie mit ihrer Marienstatue normale österreichische Bürger, die sie auf ihre ganz besondere Art zu missionieren versucht.

    "Die Mutter Gottes wird Ihnen sicher helfen, dass sie ihr Leben ändern können. Dass sie endlich Konsequenzen ziehe." – "I wüll mich aber nicht ändern wir sind zufrieden."– "Aber sie leben in Sünde, begreifen Sie das nicht. Ohne das Sakrament der Ehe..." – "Wer bestimmt was Sünde ist?" – "Gott bestimmt das." – "Da hat er aber viel zu tun, der Gott." – "Ja der hat viel zu tun." – "Gott hat uns den freien Willen gegeben. Und mit dem freien Willen können wir uns entscheiden, was Gut ist und was Böse."

    Marias Kreuzzug ist im buchstäblichen Sinne verrückt, weswegen Seidels Film auch keine Religionskritik ist, als den ihn manche empfinden werden. Oft verlässt der Regisseur ganz entschieden den Tugendpfad des guten Geschmacks. Als wenn man die erotische Konnotation ihres Jesuskults noch nicht mitbekommen hätte, wird der Mann am Kreuz abgeschleckt. Dann reibt Maria sich unsittlich an der Kreuzskulptur. Was bei "Paradies: Liebe" noch seine Stärke war, ist in diesem Film meist oberflächliche Effekthascherei.

    Doch dann gibt es wieder dieses eine Seidelbild, das auf immer hängen bleiben wird. Maria wartet an einer kleinen S-Bahn-Station. Ein Zug rauscht vorbei, wie das ganze Leben an dieser so seltsam unerlösten Figur. Das Licht über dieser Szene ist ganz und gar nicht von dieser Welt. Vielleicht sollte sich Ulrich Seidel etwas mehr auf solche Bilder verlassen. Dann wäre er ein ganz Großer.