Archiv


Wenn der Morgen dämmert

Madeleine Bourdouxhe: Auf der Suche nach Marie Aus dem Französischen von Monika Schlitzer Piper Verlag, 1998, 186 Seiten, 32 Mark

Hajo Steinert | 23.03.1998
    Madeleine Bourdouxhe: Wenn der Morgen dämmert Erzählungen Aus dem Französischen von Monika Schlitzer und Sabine Schwenk Serie Piper, 1998, 128 Seiten, 14,90 Mark

    Ihr Sommerkleid ist so durchsichtig, daß sich ihre langen Beine unter dem Stoff abzeichnen. Sonnenlicht bringt ihr kastanienbraunes Haar zum Leuchten, eine Strähne hängt an der Schläfe herunter. Setzt sie sich an den Küchentisch, stützt sie ihren Kopf in die Hände und lauscht dem Pulsschlag in ihrem Schädel. An den Schultern des Gatten träumt sie selbstvergessen davon, wie er sie vom Boden abhebt und zu "vulgären" Rhythmen durch ein "intimes" Lokal "mit vielen eng umschlungenen Schatten" trägt.

    Marie - eine der merkwürdigsten, anmutigsten, schönsten Frauenfiguren seit langem. Sie könnte von Marguerite Duras sein, hat aber auch etwas von den Frauen bei Theodor Fontane. Der würde sich freilich die Augen reiben, wenn er lesen könnte, wie weit eine Frau im zwanzigsten Jahrhundert geht, um sich aus den Fesseln eines Mannes mit Prinzipien zu befreien.

    Jean ist ein Langweiler par excellence. Ist ihm mal locker zumute, streift er sich höchstens mal die Sandalen vom Fuß und geht barfuß am Strand entlang. Selbst seine Komplimente tragen Bügelfalten: "Du siehst gut aus." Kommt er mal später als erwartet nach Hause, fragt er neckisch: "Bist du mir böse?" Sex in der Ehe? Eine Feierabendritual. "Wenden sich alle Männer gleich nach der Liebe ab und schlafen ein?" Nein, Jean ist beileibe nicht der Mann ihrer Träume, dennoch ist sie sich sicher: "Der einzige Mann auf der ganzen Welt, den ich liebe."

    Das hindert sie freilich nicht daran, einem muskulösen Jüngling dabei zuzuschauen, wie er sich auf einem Felsen genüßlich die Kleider vom Körper streift. "Haben Sie etwas für Abenteuer übrig?", wird er sie später fragen. Sie hat. Es kommt zu einem feuchten Schäferstündchen am Strand, aber eindringen läßt Marie ihn vorerst nicht, weder in ihr Seelenleben noch in ihr Geschlecht. Es knistert ganz gehörig zwischen den Buchseiten. Der Roman entwickelt sich indes weniger zu einer 'chronique scandaleuse' als vielmehr zu einer poetisch-philsophischen Meditation über die Schuld oder Unschuld erotischen Begehrens abseits der Ehe.

    Die Erzählerin hat für das Verhalten ihrer weiblichen Hauptfigur eine interessante Theorie. In Zeiten, da "ganze Völker" dem Faschismus verfallen, komme es um so mehr darauf an, seinem "wilden Egoismus" freien Lauf zu lassen "Die Gesellschaft ist mir gleichgültig, mich interessiert nur der Einzelne." Die literarische Figur spricht, wie es die Autorin in den dreißiger Jahren in anarchistischen Zirkeln gelernt hat. Mit "ganze Völker" kann Madeleine Bourdouxhe nur Frankreich gemeint haben. Hinter der Übertreibung steckt persönliche Erfahrung. Die 1906 in Lüttich geborene und 1996 in Brüssel gestorbene Autorin zog es immer wieder nach Paris, wo sie Zeugin von Kriegsausbruch und Kollaboration wurde. Weil sich ihr Pariser Verlagshaus in den entscheidenden Jahren dem deutschen Einfluß nicht entschieden genug widersetzte, bot sie das Manuskript zu ihrem zweiten Roman einem kleinen, politisch unabhängigen belgischen Verlag an, und eben nicht Gallimard, wo 1937 der Zeit ihres Lebens erfolgreichste Roman, "Gilles Frau", noch erschien.

    Zurück zu Marie. Der Leser wird zum Voyeuer jeder ihrer Bewegungen, Gesten und Träume. Es ist gar ihr Lateinschüler, ein Knabe mit tintenverklecksten Fingern und breiten, schon männlichen Schultern, der sie in Schwingung versetzt. Erinnerungen werden in ihr, der Dreißigjährigen, wach , süße Gedanken an damals, als sie noch sechzehn war, "ein schönes sanftes Mädchen" mit "wohlgeformten Brüsten", einem überfließenden Herz, das ganze schöne Leben noch vor sich. Und heute? Alles arrangiert und berechenbar.

    Ein Zeitungsredakteur bestellt Marie unter dem Vorwand zu sich nach Hause, sie als freie Mitarbeiterin zu beschäftigen. Die Vorhänge sind zugezogen, das Licht ist gedämpft, der Portwein duftet süßlich. Immer näher rutscht er an Marie heran, um sie zweitens davon zu überzeugen, daß heutzutage literarische und philosophische Artikel von einer gewissen Leichtigkeit zeugen sollten und erstens davon, daß nur er der richtige Liebhaber für sie sein könne. Doch Marie, angeekelt von so viel Plumpheit, schleudert ihm entgegen: "Zehn Seiten über die 'Kritik der reinen Vernunft', das ist in Ordnung ... Aber zwei Löffelchen Spinoza, ein Löffelchen Plato, drei Gramm Bergson zu vermischen und das Ganze mit einer Verdauungssauce zu übergießen, damit die Mägen dieser Damen und Fräuleins es auch verkraften - das lehne ich ab." Chapeau!

    Bei jenem Redakteur soll es sich übrigens um eine Anspielung auf Jean-Paul Sartre handeln. Marie - ein Abbild von Simone de Beauvoir? Eine literarische Liebeserklärung an die Tochter der Madeleine Bourdouxhe, die auch Marie heißt? Ganz gleich. Bekannt ist, daß Madeleine Bourdouxhe mit Simone de Beauvoir befreundet war. Die Beauvoir war ihrerseits eine Bewunderin der belgischen Schriftstellerin. Sie schrieb über sie in "Das andere Geschlecht" (1949).

    Mit Marie hat Madeleine Bourdouxhe eine selbstbewußte Gegenfigur zur tragischen Titelheldin in ihrem Roman "Gilles Frau" (deutsch 1996) geschaffen. Jene Elisa zerfloß vor Opferbereitschaft, am Ende ging sie an der Liebe zugrunde. Ihr Mann Gilles betrog sie mit ihrer Schwester. So etwas wollte Madeleine Bourdouxhe nicht noch einmal haben. Sie drehte den Spieß um: die Frau als Betrügerin, der Mann als Betrogener. Marie ist zweifellos die stärkere, intelligentere von beiden Frauenfiguren, die Intellektuelle. Man könnte es auch so sagen: Mit Marie übt die Autorin ein wenig Rache an den Verantwortlichen für Elisas tödliches Schicksal. Sie ist ihr gelungen. Mir gefällt die Marie besser als Elisa, weil sie eine in sich noch widersprüchlichere Figur ist, eine noch geheimnisvollerere.

    Wohlgemerkt, "Auf der Suche nach Marie" ist 1943 zum ersten Mal erschienen. Wären da nicht gewisse lyrische Überspanntheiten, die sich heute keine noch so von der Enge der Ehe überzeugte Erzählerin mehr leisten würde, stünde da am Ende nicht ein - gemessen an der Subtilität der erzählten Geschichte - etwas rührseliger Traktat über die "ewige, vollkommene Liebe", könnte man zuweilen glauben, das Buch sei in unseren Tagen geschrieben worden.

    Madeleine Bourdouxhes Roman ist eine wunderbar sentimentale Liebeserklärung an das Paris der letzten Tage vor der deutschen Besetzung. Der Roman gibt Impressionen wieder, wie man sie allerdings nur damals, in unmittelbarer Erfahrung der Gegenwart, aufschreiben konnte. Dieses Paris mit seinen Plätzen und Boulevards, Metrostationen und Pensionen, Cafés und Blumenständen, Markthallen und Bahnhöfen, es duftet und lärmt einem Seite um Seite entgegen.

    Das Moderne an Madeleine Bourdouxhes Erzählweise liegt in der weitgehenden Aussparung psychologisierender Kommentare. Sie erzählt in stillen, sanften Bildern, die gelegentlich ins Surreale gleiten. Die Autorin kannte René Margritte und Paul Delvaux, war mit Paul Éluard befreundet. Wunderbar jene nächtliche Szene, in der Marie, ganz symbolisch, allein aufs offene Meer hinausrudert. Wie federleicht das Bild von den jungen Mädchen, die in gestärkten Schürzen und Organdyschleifen im Haar, mit karmesinroten Lippen und verschlossenen Gesichtern "fast körperlos" über die Flure schweben. Einprägsam auch jener fast mystische Augenblick mit dem fremden, "gutaussehenden" Soldaten im Zugabteil, der bis zum nächsten Bahnhof ein wenig mit den Locken in Maries Nacken spielen darf. "Ohne Hintergedanken!", kommentiert die Autorin. Stummes Einverständnis: das steht über vielen Sequenzen dieses bildtrunkenen Romans.

    Heute endlich zählt man die Bourdouxhe auch in Deutschland zu den schillerndsten Autorinnen französischer Sprache in diesem Jahrhundert. Gleichzeitig mit dem Roman "Auf der Suche nach Marie" ist ein Band mit (im ganzen nicht so überzeugenden) Erzählungen erschienen, die nicht weniger emphatisch von liebenden Paaren und Passanten im Paris der dreißiger Jahren handeln. Die aus den englischen Ausgaben übernommenen Nachworte in beiden Neuerscheinungen empfehlen eine feministische Lesart. Damit tut man Madeleine Bourdouxhe Unrecht. Ihre Romane und Erzählungen lassen sich so wenig der feministischen Literaturgeschichte zuordnen wie Theodor Fontanes Frauenromane einem, wie sollen wir es nennen, 'Maskulinismus' in der Literatur.

    Zugegeben, Ehebruch in der Literatur ist bekanntlich eher eine Spezialität der Frau. Die meisten männlichen Helden wollen eigentlich immer nur fremdgehen. Daß auch Frauen "fremdgehen" können, ohne sich gleich als Ehebrecherinnen zu verstehen und selbst anzuklagen - auch davon erzählt Madeleine Bourdouxhe. In einer "freundschaftlichen Liebe" zwischen den Partnern sieht die Autorin die eigentliche emotionale Erfüllung der Ehe. Erotische Sensationen finden außerhalb statt. Wenn man das nur akzeptieren könnte - so dürfen wir nach der Lektüre des erstaunlich zeitgemäßen Romans folgern - sähe es vielleicht besser um unser aller Eheleben aus. Nachtschränkchenlektüre, die provoziert.