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Widersprüche der Kolonialzeit

2012 war "Tabu" des portugiesischen Filmemachers Miguel Gomes auf der Berlinale zu sehen. Ein großes intellektuelles und sinnliches Vergnügen - das sagt Deutschlandfunk-Kinokritiker Josef Schnelle über den Film, der die Widersprüche des portugiesischen Kolonialismus in Afrika beschreibt.

Von Josef Schnelle | 20.12.2012
    "Aber Sie wissen ja, wie Träume sind. Man kann sie nicht steuern. Jedenfalls sagte dann dieser Affe oder Mann: er habe es an den Automaten im Casino zu einem Vermögen gebracht. – In dem alten Casino. Das neue taugt nichts. Darauf antwortete meine Freundin ihm: 'Glück im Spiel, Pech in der Liebe.’ Und dann dachte ich, wenn sie das in Anwesenheit ihres Mannes sagt, dann betrügt sie ihn ganz sicher."

    Aurora verzockt regelmäßig ihre Rente im Casino und behält nicht einmal genug für das Taxi zurück zu ihrer Wohnung in Lissabon. Nachbarin Pilar löst sie wieder aus. Nach dem Tod der alten Dame sucht sie in einem Altersheim Ventura auf, der offenbar die Einzige, die große Liebe der rätselhaften Ruheständlerin gewesen ist. Er enthüllt ihr ein großes Geheimnis, das einer Vergangenheit Auroras als Kolonialprinzessin in Afrika.

    "Aurora hatte eine Farm in Afrika – am Fuße des Monte Tabu. Ihre Mutter hat sie nie gekannt. Sie starb nach der Geburt und beklagte die verlorene Zeit, die sie vor Mücken geschützt im Bett verbracht hatte, um Liebesromane zu lesen und eine chronische Migräne zu kurieren."

    Und so will Aurora als junges Mädchen es eher ihrem Vater gleichtun. Sie wird Großwildjägerin und Beraterin von oft scheiternden Filmprojekten, und einmal im Leben ist sie eine große Liebende auf der Flucht.

    Nach einer realistischen Einleitung in der Jetztzeit mit der nahezu dementen Aurora wechselt der Film seinen Schauplatz. Wir befinden uns nun in der Endphase des portugiesischen Kolonialismus in Afrika und in einem durchstilisierten Teil des durchweg schwarz-weißen Films, der die Hitze des Kontinents hinter flirrendem Licht verbirgt.

    Krokodile fressen wie in einer Slapstickkomödie selbsternannte Entdecker. Am fast entleerten Swimmingpool feiern koloniale Randexistenzen letzte Parties und Aurora stürzt sich aussichtslos in eine große Affäre mit dem verführerischen jungen Ventura.

    Nach der irritierenden Einleitung, wie man sie sonst nur aus Filmepisoden kennt, die "viele Jahre später" heißen, ist der Film nun ganz bei sich in einer mit ästhetischen Widersprüchen aufgeladenen Kolonialzeit, die sich jeder Romantisierung entzieht. So fremd und unerlöst sind die ebenso unwissenden wie isolierten Kolonialherren noch nie dargestellt worden. Sie beuten das Land aus und spüren es nicht. Sie finden keine Heimat und ahnen es nicht. Die - meist strukturelle - Gewalt die sie ausüben, wirkt auf die Afrikaner wie die von Außerirdischen von einem fremden Stern.

    Auch Meryl Streep hatte in "Jenseits von Afrika" eine Farm dort. Bei Miguel Gomez kehrt die Formel wieder als ironische Paraphrase. Diese Europäer lassen sich so wenig ein auf den dunklen Kontinent ein wie vorbeireisende fremde Besucher. Dieses Grundgefühl, diese These hat der portugiesische Filmemacher in einen wunderbaren hintergründigen Märchenfilm gegossen, der komödiantische, melodramatische und betörend magische Elemente vermischt.

    Am fast wasserleeren Pool wird die Musik der kolonialen Weltbeherrscher ganz unschuldig zum Ohrwurm. Die Musik dieses Films ist traumverloren und verführerisch. So haben sich vielleicht die Kolonialisten in fremdem Ambiente wirklich gefühlt. Und wurden von den Eingeborenen vielleicht kopfschüttelnd als seltsame selbstverliebte Monster aus Europa gesehen.

    "Mario, auch bekannt als 'Der Priester', 'Der Sheriff', 'Der Afrikaner' oder 'Der Boss' frönte zahlreichen Leidenschaften und Aktivitäten. Sein Vater, spiritueller Führer der Gemeinde, war auf Lebenszeit nach Afrika verbannt, als die Kolonie noch hauptsächlich dem Strafvollzug diente."

    Für diese und andere Gedanken und Gefühle ist "Tabu" eine perfekte Vorlage - übrigens gut, literarisch und stimmlich anspruchsvoll synchronisiert - mit tieferem Sinn, ganz viel Substanz und Kinomagie. Nicht umsonst zeigt jedes zweite Plakat des Films ein Krokodil, das aus dem Wasser hervorlugt. Dieses Maul wird sich später noch weit öffnen. Ein großes intellektuelles und sinnliches Vergnügen und einer der seltenen Momente, in denen man spürt, das sie Kinogeschichte machen werden.