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Wie eine hoch dosierte Starkbierinfusion

"Der Bockerer" war Ulrich Bechers größter Erfolg. Die deutschsprachigen Theater spielten die Anti-Nazi-Posse gern, die übrigen Werke Bechers aber blieben Geheimtipps. Die Nationalsozialisten hatten die Karriere des 1910 geborenen einzigen Meisterschülers von George Grosz nicht nur unterbrochen, sondern dauerhaft beendet. In seinem Roman "Murmeljagd", der 1969 bei Rowohlt erschien und nun zum 100. Geburtstag des Autors vom Schoeffling-Verlag wieder vorgelegt wird, erzählt Ulrich Becher auf wüste, ungebärdige Weise vom Exil in der Schweiz, das einem Mann den Kopf und beinahe die Ehefrau, vielen anderen aber das Leben raubt.

Von Jörg Plath | 12.05.2010
    "Bin eine Skikanone mittlerer Güte, der in Olmütz Geborene war vom Terrain umgeben: Hohe Tatra, Erz- und Riesengebirge; (...) mit zehn brillierte ich im Telemarkschwung bei Pulverschnee; mit zwölf fuhr ich Schuß, um irgendwelchen zuschauenden Damen zu imponieren, bis ins nächste Wäldchen hinab, wo ich Kleinholz machte, das heißt meine Bretter zerbrach. Nach dem Krieg lernte ich bei Hannes Schneider, dem Gründer der Skischule St. Anton, das Abfahren in der 'Arlberghocke'. (...) Mit dem Fliegen war's nichts mehr, meiner Kriegsverletzung wegen, mit den Skiern ist es noch etwas, selbst bei langer Abfahrt. So rasch wie beim Fliegen verändert sich der Luftdruck nicht. - Fast hätten sie mich gefangengenommen.
    Gefangengenommen? Bin ich schon im Zweiten Krieg? Gefahr im Verzug, fahr-fahr-fahr! Genauso wie der Toni es einkalkuliert hat, taucht in der Schneeferne - Schneeferner heißt ein Nordtiroler bayernwärts blickender Pilz - die skifahrbare SS-Patrouille auf; tauchen die Bayern auf; steckt der Toni die 'Slalomstrecke' um, Minuten bevor sie heranzischen im Pulverschnee, und ich entzisch ihnen, umflatscht von ein paar Karabinerschüssen. Das ist mir schon gar nichts Neues, und ich bekomm nicht einmal Stirnklopfen davon."
    20f.

    Die "Skikanone mittlerer Güte" ist ein Schwadroneur erster Güte, heißt Albert Trebla, ist österreichischer Kommunist und in dieser Szene 1938 auf der Flucht in das Schweizer Exil, wo seine Frau Roxane und reiche Freunde bereits weilen. Von etwas mehr als 30 Tagen aus dem Leben des Emigrantenpaares in Graubünden erzählt Ulrich Bechers Roman "Murmeljagd" im Stil einer spätexpressionistisch-barocken Räuberpistole.

    Kugeln "umflatschen" Trebla auch in der Schweiz. Er glaubt sich verfolgt von zwei blonden jungen Männern, mutmaßlichen Abgesandten des Führers, den Trebla abfällig "Kleinhäusler" nennt. Sie geben sich als Murmeltierjäger aus - er sei, repliziert Trebla drohend, Murmeltierjägerjäger. Ob er sich das Mörderkommando nur einbildet, bleibt unklar, doch in seiner Umgebung vermehren sich die Toten wie die Murmeltiere. Dem Schicksal der meisten Toten widmet sich Becher ausführlich, sodass die heitere Schweizer Urlaubsgegend eine bis in den Barock zurückreichende Gewaltgeschichte erhält, der der Nazi-Terror die Krone aufsetzt.

    Einer der Toten ist der Vater von Treblas Ehefrau Roxane, ein weltberühmter Zirkusclown, der im KZ Dachau einen Salto mortale vorführt, indem er mit dem Hengst eines überrumpelten SS-Schergen in den mit Hochspannung geladenen Stacheldraht reitet. Trebla hat Angst, der Ehefrau die traurige Nachricht vom Tod des Vaters zu überbringen.

    "Ich (...) spähte durch die Scheibe des Lenkerfensters und entdeckte Xane auf dem Nebensitz. Sie schien zu schlafen.
    Fräulein Schlafhase; Lilienarmige; Elefantenfreundliche; Xane Coquelicot; Kukulaps; mit solchen Anreden würde ich mich nicht als Hiobsbotschafter vorstellen können, Himmel, du schrecklicher. Ich sah in der Tat zu ihm auf. Sah die Dachsilhouette des Pfauenpallas das Segment des Föhnhimmels schneiden, der sich nun ganz mit enormen Zirrostratus-Schleiern verhüllte; der Mond ein diffuser Goldwisch. Seinerzeit hatte Maxim mir in seiner Ordination manche Röntgenaufnahme gezeigt, so die vom Torso des lungenkranken Scherhack-Franz. Ja, dieser Himmel war wie die gigantisch vergrößerte Röntgenaufnahme eines menschlichen Torsos."
    404 f.

    Von der Krankheit der Zeit bleibt nicht einmal der Himmel verschont. Zum Glück hat Albert Trebla noch seine Sprache und seine barock-austriazische Männlichkeit: Er ist Dichter und ein rechter Schwerenöter, der die "marmorne" Kellnerin "mitternachtsheiß" liebt. Zu Kolportage, Crime und Ehezärtlichkeiten wird Wiener, Berliner, Schweizerdeutsche, italienische und rätoromanische Mundart gesprochen sowie der Telegrammstil erprobt. Zudem fügt Trebla gern lange Briefe und noch längere Erzählungen anderer Personen ein, die ebenso wenig wie er die "malefizischen" Details verkürzen können. Als "Murmeljagd" 1969, in der Hochphase des Zweifels an fiktiver Literatur, erstmals erschien, kritisierte Martin Gregor-Dellin die überbordende Sprache des Romans als Selbstläufer. Daran stimmt, dass hier einer nach Halt in der Sprache sucht, der keinen anderen mehr hat - den Kommunisten glaubt man Trebla ohnehin kaum.

    Das Zeitgefühl des Autors dürfte "Murmeljagd" ziemlich gut beschreiben. Ulrich Becher, 1910 geboren, wurde früh und nachhaltig der Boden unter den Füßen weggezogen. Der einzige Meisterschüler von George Grosz debütierte 1932 als Schriftsteller und wurde 1933 der jüngste der von den Nazis verbrannten Dichtern. Er floh kurz vor dem sogenannten "Anschluss" mit seiner Frau Daba, der Tochter des humoristischen Schriftstellers Alexander Roda Roda, aus Österreich in die Schweiz und dann über Südamerika in die USA. Nach dem Krieg spielten die Theater Bechers Anti-Nazi-Posse "Der Bockerer" oft, doch die übrigen Werke blieben Geheimtipps. 1969 kam "Murmeljagd" ungelegen, man schätzte die dokumentarische Literatur. Die Neuausgabe zum 100. Geburtstag des Autors könnte für die vorherrschende realistische Erzählweise hierzulande wie eine hoch dosierte Starkbierinfusion wirken. Ebensolche Abwehrreaktionen wären allerdings auch verständlich.

    Bibliografie
    Ulrich Becher, Murmeljagd. Roman.
    Schoeffling & Co. Frankfurt a. M. 2009. 700 Seiten, 24,90 Euro