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Wie starb Osama Bin Laden?

Im vergangenen Mai wurde Osama Bin Laden von den Navy Seals getötet. Laut US-Regierung geschah dies in einem einstündigen Feuergefecht. Chuck Pfarrer, ehemaliger Kommandant der Navy Seals, ist anderer Meinung und hat mit seinem Buch "Seal Target Geronimo" in ein Wespennest gestochen.

Von Gregor Peter Schmitz | 30.01.2012
    Manche Bücher werden nicht besprochen, sie werden dementiert. So ist es auch Chuck Pfarrer ergangen, der ein Buch über die letzten Minuten von Osama Bin Laden vorgelegt hat - das gleichzeitig eine Lobpreisung der bestens trainierten Agenten des "SEAL TEAM SIX" der US-Marine darstellt, welche den Terroristenfürsten im Mai in Pakistan zur Strecke brachten. Wenige Zeilen in dem 225-Seiten-Werk haben Pfarrer nämlich weltweite Schlagzeilen und den Zorn der US-Regierung eingebracht. Sie lauten:

    "Um ein Uhr morgens begann sich sein Schlafzimmer mit dröhnendem Lärm zu füllen....Osama warf seine Bettdecke zurück, er versuchte seine Füße auf den Boden zu setzen und konnte spüren, dass das ganze Haus wackelte. Er hatte noch 90 Sekunden zu leben."

    90 Sekunden? Diese Darstellung widerspricht massiv der offiziellen US-Regierungsversion, laut der sich die Elitesoldaten ein rund einstündiges Feuergefecht mit Obamas Vertrauten und ihm selber lieferten. Pfarrer, der früher selbst ein Navy Seal-Officer und sogar ein Ausbilder war, will davon nichts wissen - er möchte vielmehr herausstellen, dass seine Ex-Kollegen nicht lange kämpften, sondern schnell und präzise töteten, egal was die Politiker später behaupteten:

    "Das Weiße Haus geriet ins Schwimmen und veröffentlichte eine Reihe widersprüchlicher Stellungnahmen, die den Eindruck vermittelten, Bin Laden sei am Ende eines rund einstündigen Feuergefechts gestorben - in dem die SEALS sich drei Stockwerke hoch kämpften, Osama in seinem Schlafzimmer fanden und kaltblütig erschossen. Kein Wunder, dass TV-Moderatoren und "Experten" rasch den Begriff "Killer-Kommando" verwendeten."

    Dass es ganz anders war, ist für Pfarrer sehr wichtig: Denn er behauptet, nach der offiziellen Darstellung hätten die Navy Seals Bin Laden regelrecht ermordet - während sie nach seiner Version völlig korrekt und ehrenhaft gehandelt hätten, denn schließlich habe Bin Laden nach einer Waffe gegriffen, als er in seinem Schlafzimmer gestellt wurde. Pfarrer schreibt:

    "So sind die Fakten: Während des gesamten Eingriffs feuerte das SEAL TEAM SIX nur zwölf Kugeln ab. Diese Schüsse töteten Osama Bin Laden, seinen Sohn und zwei Leibwächter. All diese Männer waren entweder bewaffnet oder standen nahe bei Waffen. Die Frau von Abu Ahmed al Kuwaiti wurde versehentlich getötet. Sie stand hinter ihrem Ehemann, als er auf einen Helikopter der Amerikaner feuerte. Die Agenten, die in Bin Ladens Schlafzimmer eindrangen, warteten nicht darauf, dass er zur Waffe greifen konnte. Bin Laden starb mit seiner Hand ausgestreckt nach einem Gewehr und einer Pistole neben seinem Bett."

    Wer hat nun Recht? Das Weiße Haus hat Pfarrers These rasch als "Erfindung" verworfen - und betont, er habe mit keinem einzigen der beteiligten Agenten sprechen können. Der Autor, bislang aufgefallen vor allem durch Texte über Militäroperationen, bleibt jedoch bei seiner Darstellung, auch wenn er mittlerweile kleinere Schlampigkeiten in der Recherche eingestehen musste. Sicher, er räumt auch ein, dass normalerweise SEALS extrem verschwiegen seien:

    "Mit Ausnahme von Sprechern, die eine Ausnahmeerlaubnis vom Verteidigungsminister erhielten, hat kein aktiver SEAL jemals ein Interview gegeben ... wenn jemand unerwartet einen SEAL treffen würde, würde man ihn wohl selbstbewusst, angenehm, vielleicht gar geschmeidig finden. Doch obwohl sie ein offenes Gemüt zu haben scheinen, wäre es so gut wie unmöglich, sie besser kennen zu lernen. SEALS sind Fremden gegenüber misstrauisch, und es dauert sehr lange für einen männlichen oder weiblichen Zivilisten, ihr Vertrauen zu gewinnen."

    Nur verfüge er eben als ehemaliger SEAL über besonderen Zugang, betont Autor Pfarrer, und behauptet gar, indirekt bei der Vorbereitung des Bin-Laden-Einsatzes geholfen zu haben, was die US-Regierung ebenfalls vehement verneint. Klären lassen wird sich die Kontroverse um Pfarrers These wohl kaum so bald. Freilich erscheint es durchaus glaubhaft, dass einige SEALS sich einem ehemaligen Kollegen anvertrauen. Schließlich sollen viele von ihnen mit der politischen Bewertung der Tat und ihrer Darstellung als "Killerkommando" - keineswegs einverstanden sein.

    Pfarrer schildert in seinem 225 Seiten-Werk ihre Sicht der Dinge in uneingeschränkter Zuneigung. Seine Kapitel über Bin Laden "Schlagzeile Richkid" oder über islamischen Fundamentalismus sind lediglich Pflichtteile. Dem Autor geht es vor allem darum, die Leistung der SEALS zu würdigen, die er als fast übermenschlich qualifizierte Kampfmaschinen beschreibt:

    "Wenn sie einen Raum betreten, tauchen SEALS in eine Art Zen-Bewusstseinszustand über, der sie reagieren und wahrnehmen lässt, ohne groß nachdenken zu müssen. Sie nehmen nicht nur umgehend die Situation um sich herum wahr, sondern tauchen auch in die Gedanken und Absichten ihrer Feinde ein. Alle ihre Sinne sind verstärkt, der kleinste Laut, der unauffälligste Geruch, die Materialien des Bodens und der Wände, alles ist in ihr Bewusstsein eingebrannt."

    Das klingt manchmal etwas arg nach Propaganda, doch Pfarrer macht aus seiner Parteilichkeit ja keinen Hehl. Sein Buch war daher auch aller Regierungskritik zum Trotz durchaus ein Publikumserfolg. Denn jeder Leser, der mehr über diese geheime Welt hinter den Geheimkommandos des US-Militärs erfahren will, ist bei ihm bestens aufgehoben. Nicht mehr bietet dieses Buch, aber auch nicht weniger.

    Chuck Pfarrer: "Seal Target Geronimo. The Inside Story of the Mission to Kill Osama Bin Laden."
    Verlag Macmillan Us,
    225 Seiten, 14,95 Euro
    ISBN: 978-1-250-00635-6