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Wild, laut und gewalttätig

Nordwind hat vor viereinhalb Jahren als kleine Privatinitiative begonnen. Mittlerweile hat sich das Festival zum Schaufenster für skandinavisches zeitgenössisches Theater entwickelt. In diesem Jahr macht es mit Berlin und Hamburg zum ersten Mal in zwei deutschen Städten Station.

Von Gerd Brendel | 25.11.2011
    Keine Spur von skandinavisch unterkühlter Stimmung auf der Bühne. Wenn Erna Omarsdottir in ihr Mikro röhrt, bekommen die Zuschauer eine Gänsehaut wie bei einem Heavy Metall Konzert. "Ich bin ein böses Mädchen" brüllt sie, während ihre vier Mit-Performerinnen wild im Kreis springen, um dann unvermittelt zu erstarren: Exstase, Hexensabbat, David-Lynch-Horror-Film. Omarsdottir Stück "teach us to outgrow our madness" über das herauswachsen aus dem Wahnsinn, ist von allem etwas - und etwas ganz anderes:

    "Irgendwie kamen wir auf die Idee was über Frauen in den Wechseljahren zu machen, wenn die Hormone im Körper verrückt spielen, und das haben wir dann mit Trance und Besessenheit zusammen gebracht."

    Die isländische Choreografin hat bei Teresa de Keersmaeker gelernt, und für Jan Fabre und Sidi Larbi Cherkaoui getanzt. Auf dem Nordwind-Festival präsentiert sie neben "madness" noch eine zweite eigene Arbeit.

    Für Festivalleiterin Ricarda Chiontas ist Omarsdottir eine typische Vertreterin des zeitgenössischen skandinavischen Theaters. Stichwort: "Stolze Radikalität".
    "Was ist stolze Radikalität? Sich zum einen tatsächlich trauen, das Große das Opernhaft, einen volkstümlicheren Zugang, einen bodenständigeren Zugang.",


    Neben der Isländerin Erna Omarsdottir, zählt das norwegische Regieduo Vengard Vinge und Ida Müller dazu, dessen Ibsen-Inszenierung gerade von der "Bildzeitung" zu Berlins perversestem Theaterabend gekürt wurde. Zum neuen skandinavischen Brachialtheater gehört aber auch und der finnische Starregisseur Kristian Smeds.

    "Ich denke, das diesjährige Programm hat mit Kristian Smeds einen sehr ungewöhnlichen Regisseur, der von sich selber sagt, ich trau mir großen Pathos zu, ich traue mir große Gefühle zu. Ich traue mich das auch zu setzten in meinen Arbeiten."

    Für das Nordwind-Festival hat Chiontas seine Version der "Brüder Karamasow" ausgesucht.

    Ein wüster Abend zwischen Punkrock und Performance. Auf der Bühne stehen nicht drei, sondern ein Dutzend Karamasow-Geschwister: Vier Jahre lang hat Smeds mit jungen Schauspielern aus Tallin den Dostojewski-Text auseinandergenommen und dazu improvisiert. Jetzt stehen die zwölf mit der E-Gitarre in der Hand auf der Bühne und spielen ihre Versionen der Geschichte als szenisches Rockkonzert.

    Wild, laut und gewalttätig wird es auf den Nordwind-Festivalbühnen in Berlin und Hamburg zugehen. Vom Klischee der sozial befriedeten skandinavischen Gesellschaften bleibt da nicht viel übrig.

    Wie brüchig der Frieden ist, zeigten die Terroranschläge von Stockholm und Utöya in diesem Sommer: "Der Norden, - die offene Gesellschaft und ihre Feinde" lautet der Titel einer Podiumsdiskussion im Festivalprogramm:

    "Wobei die Feinde in Klammern gesetzt sind, weil es nicht darum geht, so eine Gut-Böse Diskussion zu machen oder eine Betroffenheitsdiskussion, sondern primär darum zu schauen, inwieweit bietet diese Gesellschaft auch Schlupflöcher, die wesentlich menschenverachtender, radikaler sind, wo wir das Gefühl haben, der macht da so seins, aber da guck ich nicht so genau hin und geh auch nicht in die Verantwortung, nicht im Sinne von Bürgerwehr, sondern von Wachheit."

    Den dunklen Seiten der Gesellschaft zwischen Reykjavik und Helsinki kann man an jedem Festivalabend auf der Bühne begegnen. Wenn es einen roten Faden gibt, der sich durch das Nordwind-Programm zieht, dann ist es genau dieser Blick in den Abgrund und die Erkenntnis, dass Menschen …

    " … brüchig sind, paradox sind, und sehr unberechenbar und das spiegelt sich in jedem Stück wieder, das wir eingeladen haben."


    Mehr zum Thema:
    Alle Informationen zum Nordwind-Festival, das vom 25. November bis 16. Dezember 2011 in den beiden deutschen Städten Berlin und Hamburg stattfindet