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Wissbegier und Abenteuerlust

Claude Lévi-Strauss, einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, wurde am 28.11.1908 in Brüssel geboren. Er gilt als der Begründer der strukturalen Anthropologie, der die Methoden von Roman Jacobsons strukturaler Linguistik auf die Sozialwissenschaften an wandte und eine interdisziplinär arbeitende Kulturanthropologie begründete.

Von Margrit Klingler-Clavijo |
    Den bahnbrechenden Veränderungen in den Natur - und Geisteswissenschaften hat er in dem 1962 erschienenen Band "Das wilde Denken" Rechnung getragen und in den vierbändigen, zwischen 1964 und 1971 erschienenen "Mythologica" das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft sowie Natur und Kultur ausgelotet. Claude Lévi-Strauss hat eine Hierarchie der Kulturen verworfen und gezeigt, dass sich das Denken eines brasilianischen Indianers nicht substantiell von dem eines französischen Intellektuellen unterscheidet.

    Wissbegier und Abenteuerlust haben Claude Lévi-Strauss nach einem Jura - und Philosophiestudium in Paris zur Ethnologie geführt. Er lehrte von 1935 bis 1938 an der Universität von Sao Paulo und unternahm von dort aus mehrere Expeditionen zu den Indianern des Mato Grosso und Amazoniens. Kurz vor Ausbruch des II. Weltkriegs kehrte er nach Paris zurück, musste jedoch als Jude 1941 nach New York fliehen, übrigens auf dem gleichen Schiff wie der surrealistische Dichter André Breton. In New York übernahm er eine Professor an der New School for Social Research und befreundete sich mit dem Linguisten Roman Jacobson.

    Nach der Rückkehr nach Frankreich war Claude Lévi-Strauss seit 1948 am Musée de l'Homme und am Centre national de la recherche scientifique tätig. Anfang der 60er Jahre erhielt er einen Ruf ans College de France und wurde 1973 in die Academie Francaise aufgenommen.

    Anlässlich seines 100. Geburtstages wird Claude Lévi-Strauss vielerorts geehrt. An der Universität von Sao Paulo mit einer Vortragsreihe über sein Werk und dessen Einfluss auf Literatur und Psychoanalyse. Im Pariser Musée du quai Branly mit einer Ausstellung der Kultgegenstände und Objekte, die er von seinen Expeditionen nach Asien und Lateinamerika mitgebracht hatte, nebst Fotos, die bereits in dem wieder neu aufgelegten Band "Saudades do Brasil" sowie in "Traurige Tropen" erschienen waren.

    Zum Klassiker zu Lebzeiten avancierte Claude Lévi-Strauss in diesen Jahr: In der Bibliotheque de la Pleiade erscheint die Gesamtausgabe seines umfangreichen Werkes, die mit "Traurige Tropen" beginnt. Der Suhrkamp Verlag hat aus gegebenem Anlass eine prächtige, mit 40 Gouachen von Mimmo Paladino illustrierte Jubiläumsausgabe von "Traurige Tropen" herausgebracht.

    "'Traurige Tropen' habe ich in vier Monaten geschrieben. Ich hatte damals sehr puritanische und intolerante Vorstellungen, ich war der Auffassung, dass man sich nur der Wissenschaft widmen sollte; ein eher leichtes Buch zu schreiben, war daher eine Art Sünde. Ich musste mich beeilen, um mich wieder ernsten Dingen zuwenden zu können, daher die vier Monate."

    So erklärte Claude Lévi-Strauss 1972 in einem Interview mit Jean-José Marchand die Titelwahl eines seiner populärsten Werke, womit er weit über die wissenschaftlichen Fachkreise hinaus bekannt wurde und sich als Schriftsteller profilierte, der allgemeinverständlich über komplexe Zusammenhänge schreibt, dabei die ästhetischen, politischen und spirituellen Aspekte seiner Reisen thematisiert und als Ethnologe seine Arbeit selbstkritisch reflektiert, wenn er schreibt:
    "Denn war es nicht meine Schuld und die meines Berufs zu glauben, dass Menschen nicht immer Menschen sind? Dass einige mehr Interesse und Aufmerksamkeit verdienen, weil ihre Hautfarbe und ihre Sitten uns in Erstaunen setzen? Wenn es mir nur gelingt, sie zu erahnen und damit ihrer Fremdheit zu entkleiden, hätte ich ebenso gut zu Hause bleiben können. Oder wenn sie diese Fremdheit, wie hier, bewahren, kann ich nichts mit ihr anfangen, da ich nicht einmal in der Lage bin, zu erfassen, worin sie besteht."
    "Traurige Tropen" beginnt mit der eindringlichen Schilderung einer politisch bedingten Emigration, die den im faschistischen Europa unerwünschten Juden Claude Lévi- Strauss 1941 von Paris über Fort- de - France nach New York geführt hatte. Im Gegensatz zu seiner ersten Brasilienreise, wo man ihn als Mitglied der künftigen akademischen Elite Frankreichs hofiert hatte, wurde er bei diesem Zwischenstopp in der Karibik von den Einreisebehörden schikaniert und da wurde er sich der Schattenseiten der westlichen Zivilisation bewusst, und er beklagte den "Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben," sowie den Drang zur Vereinheitlichung, zur Monokultur.

    Ausführlich erzählt er über der Brasilienaufenthalt - die Ankunft in Rio de Janeiro, das akademische Milieu von Sao Paulo, die Feldforschungen bei den Caduveo-, Bororo-, und Nambikwara- Indianern:
    "Ich hatte bei den Bororo, wo ich leider nicht länger bleiben konnte, da ich mich nur während der Semesterferien für ein paar Wochen dort aufhielt, die Erfahrung einer Gesellschaft gemacht, die jeder Ethnologe, der ein bisschen besser ausgebildet war als ich damals, für ein wahres ethnologisches Paradies gehalten hätte, das mir nur einen einzigen Gedanken eingab: Zurückkehren, um ihnen das Höchstmass an Zeit zu widmen, die mir zur Verfügung stand. Eine Gesellschaft, in der nicht nur die materielle Kultur weitgehend unversehrt war, in der die Kunst der Federn, diese völlig ungewöhnliche Kunstform, durch die es den Indianern Nord- und Südamerikas gelang, sich auszudrücken, sehr lebendig war, jedoch eine Gesellschaft, in der die soziale Organisation so kompliziert und subtil war, dass man weiterhin darüber arbeitet, darüber schreibt, wobei man weit davon entfernt ist, alle Reichtümer erschöpft zu haben. Davon ging ich aus, weil ich völlig naiv und dumm gesagt hatte, dass ich Menschen sehen werde, die noch wild sind, noch weniger von der Zivilisation berührt wie die Bororo. In diesem Teil Brasiliens, von dem man damals so gut wie nichts wusste, hoffte ich, noch völlig unberührte Wilde vorzufinden. Und ich geriet - sie werden mir hoffentlich den Ausdruck verzeihen - in die erbärmlichste Gesellschaft, die dreckigste Gesellschaft, die man sich nur vorstellen kann."
    Claude Lévi-Strauss ist schockiert über die ärmlichen Lebensbedingungen der Nambikwara und fasziniert von der Schönheit und Ausdrucksstärke ihrer Kunst, wie sie im Federschmuck, den Gesichts- und Körpermalereien oder der der Natur an gepassten Architektur ihrer Hütten zum Ausdruck kommt. Tief berührt ist er von ihrem liebevollen und ungezwungenen Umgang im Alltag.
    "Die Nambikwara waren keine Primitiven mit einem großgeschriebenen P, sondern Menschen, die durch die Schwächung, die Dezimierung ihrer Bevölkerung, durch den Zusammenbruch von dem, was sie einst an Technik haben konnten aufgrund des Kontakts mit der Zivilisation entstellt waren, verstümmelt, von einer Geschichte erschütterte Menschen, auf gar keinen Fall Primitive."
    Claude Lévi-Strauss erzählt sachkundig, sinnlich und weit aus holend, indem er verschiedene Kulturen aufeinander bezieht, die Defekte der westlichen Zivilisation hervorhebt oder die monotheistischen Religionen für ihren Hang zum Dogmatismus kritisiert. Aus seiner Vorliebe für den Buddhismus macht er keinen Hehl, befähigt der doch den Menschen, das Leben im Hier und Jetzt zu erfassen und zu genießen und, wie er abschließend schreibt:
    "das Wesen dessen zu erfassen, was sie (die Menschheit) war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick - schwer von Gefühl, Heiterkeit und gegenwärtigem Verzeihen -,den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze."
    2004 beklagte Claude Lévi-Strauss in einem Interview mit Philippe Sollers die schwindende Vielfalt der Kulturen und den Raubbau an der Natur:
    "Es scheint, dass die Vielfalt der Kulturen auf ganz wesentliche Art ausschlaggebend war für die Entwicklung und Erhaltung der Menschheit. Diese Art universeller Monokultur, auf die wir zusteuern, wenn wir nicht bereits dort angekommen sind - darin kann ich mich nicht so recht wieder erkennen, was jedoch nicht so wichtig ist, schließlich gehöre ich zu einem anderen Jahrhundert, einer anderen Generation. Ich konstatiere die aktuellen Verheerungen, das erschreckende Artensterben - Flora und Fauna - wobei heutzutage die heftige Intensität dazu führt, dass wir unter einer Art innerer Vergiftung leiden, wenn ich das mal so sagen darf, und ich denke an die Gegenwart und an die Welt, in der ich meine Leben am Beenden bin: Das ist keine Welt, die ich liebe."

    Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen
    Mit 40 Gouachen von Mimmo Paladino
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2008
    Übersetzung: Eva Moldenhauer