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Wissenschaftsstudie
Lieber "Hotel Mama" als Studium in weiter Ferne

In Nordrhein-Westfalen machen mehr als die Hälfte eines Jahrgangs Abitur, in Bayern nur knapp 35 Prozent. Umgekehrt studieren in NRW aber deutlich weniger Abiturienten. Das habe vor allem mit den Erwartungen an den Abi-Schnitt und mit der Entfernung zwischen "Hotel Mama" und Wunschuni zu tun, sagte Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin im DLF.

Marcel Helbig im Gespräch mit Manfred Götzke | 17.02.2015
    Manfred Götzke: Wenn es nach dem Anteil der Abiturienten ginge, würde NRW zu den besonders klugen Bundesländern gehören und Bayern zu den eher minderbegabten. In Nordrhein-Westfalen machen nämlich mehr als die Hälfte eines Jahrgangs Abitur, in Bayern nur knapp 35 Prozent. Das ist aber natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Forscher vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die haben jetzt untersucht, wie viele Abiturienten überhaupt ein Studium beginnen, und rausgefunden, in Bayern 80 Prozent der Abiturienten, in NRW nur 60. Marcel Helbig ist Autor der Studie. Guten Tag, Herr Helbig!
    Marcel Helbig: Hallo!
    Götzke: Herr Helbig, warum studieren bayerischer Abiturienten häufiger als nordrhein-westfälische? Weil das bayerische Abi besser aufs Studium vorbereitet?
    Helbig: Ja, ich meine, Sie haben es ja eben gerade schon eingeführt, man muss ja immer schauen, was man sich da genau anschaut. Und das ist halt eben auch so, wenn man nun diese Zahlen nebeneinander legt, dann ist es ja keinesfalls so, dass Nordrhein-Westfalen nun weniger Studienanfänger hätte als Bayern.
    Es ist halt nur, von den produzierten Studienberechtigten wollen halt deutlich weniger Studieren gehen als in Bayern. Also quasi, man bildet in Bayern mehr oder weniger etwas ausbildungsadäquat aus, wenn man das so nennen will. Man kann das natürlich auch total anders bewerten. Und ansonsten gibt es halt einige Gründe, warum in Nordrhein-Westfalen außer diesen statistischen Spielereien die Studienneigung geringer ist.
    NRW-Abi "ist durchschnittlich deutlich schlechter als das in Bayern"
    Götzke: Das wäre natürlich interessant zu wissen. Was sind da die wichtigsten?
    Helbig: Zum einen ist es so, dass in Nordrhein-Westfalen das durchschnittliche Abitur deutlich schlechter ist als in Bayern oder auch in Thüringen. Das heißt, der Schnitt in Nordrhein-Westfalen liegt bei 2,69 und in Thüringen zum Beispiel bei 2,3. Und es ist nicht so, dass die Studienberechtigten sich jetzt irgendwie die Thüringer an den Thüringern orientieren oder die nordrhein-westfälischen Studienberechtigten an den dortigen halt, sondern es scheint irgendwie so eine implizite Norm zu geben, ab einem bestimmten Abi-Schnitt bin ich geeignet oder bin ich nicht geeignet für ein Studium.
    Und dadurch, dass Nordrhein-Westfalen, aber auch Niedersachsen sehr schlechte Abi-Noten haben, fühlen sich da sehr viele Studienberechtigte einfach weniger geeignet für ein Studium.
    Das Problem dabei ist nur, dass nach allem, was wir wissen, zwischen den erzielten Abi-Noten und den Kompetenzen, die diese Abiturienten dann haben, scheint es nicht einen allzu großen Zusammenhang zu geben.
    Götzke: Das heißt, ein Schüler mit einem nicht ganz so guten Abi-Schnitt ist vielleicht gar nicht so schlecht und vielleicht doch vergleichbar mit einem bayerischen Abiturienten mit einem besseren Abi-Schnitt. Kann man das so sagen?
    Helbig: Das könnte man ungefähr so sagen, ja.
    Schulbildung ist "erstmal ein Wert an sich"
    Götzke: Das wird die Bayern natürlich ärgern. Könnte man sagen, dass NRW, wenn man sich diese Spielereien, diese statistischen Sachen anguckt, in der Summe zu viele Abiturienten produziert?
    Helbig: Also wenn man das Ziel hat – und das muss ja kein erstrebenswertes Ziel sein –, aber wenn man das Ziel hat, dass man möglichst viele quasi zu einer Studienberechtigung bringt, die dann auch studieren, dann produziert Nordrhein-Westfalen zu viele Studienberechtigte.
    Wenn man aber sich einfach mal das nicht nur als eine formelle Studienberechtigung anschaut, sondern als eine Schullaufbahn von zwölf oder 13 Jahren, wo man allgemeines Wissen erlangt, dann ist diese Bildung, die man in der Schule erlangt, dann erstmal ein Wert an sich. So hat zum Beispiel die PIAAC-Studie, also das Erwachsenen-PISA, wie es ja manchmal bezeichnet wird, hat eigentlich klar gezeigt, dass jene Personen, die ein Abitur haben, egal, ob sie dann studieren oder ob sie eine berufliche Ausbildung machen oder gar nichts von beiden machen, die haben alle relativ die gleichen Kompetenzen.
    Also anscheinend scheinen in diesem längeren Bildungsgang relativ gute Kompetenzen vermittelt zu werden. Und wenn man das weniger von diesem Ziel, die müssen nun alle studieren, gehen, dann ist das doch ein positiver Fakt, überhaupt so vielen Personen erst mal eine allgemeine Bildung Teil werden zu lassen in Nordrhein-Westfalen.
    Ostdeutsche Studienanfänger sind mobiler als westdeutsche Abiturienten
    Götzke: Also Abitur machen ist immer sinnvoll. Jetzt haben Sie herausgefunden, es spielen nicht nur die Noten eine Rolle bei der Entscheidung pro oder kontra Studium, sondern auch die Entfernung vom Hotel Mama, sage ich jetzt mal salopp. Was haben Sie da konkret herausgefunden?
    Helbig: Na ja, Hotel Mama. Also, man geht ja immer davon aus im Allgemeinen, dass Studenten oder Studienberechtigte, die müssen mobil sein und die müssen international sein, und was sie nicht alles noch sein sollen. Das Problem ist, und das zeigt sich eigentlich in vielen Studien seit Jahren, Studenten und Studienberechtigte sind nicht so.
    Wir haben einige Bundesländer, wo knapp 70 Prozent der Studienberechtigten dann in ihrem Bundesland auch studieren gehen. Das heißt also, der Bezug zur Region ist für viele ein wichtiges Kriterium. Was wir jetzt gezeigt haben, ist, in Abhängigkeit, wie weit wohnt ein Studienberechtigter von der nächsten Hochschule entfernt, bestimmt darüber, ob er studieren gehen will oder nicht studieren gehen will. Und dabei gab es dann noch so vor allem Ost-West-Unterschiede, also im Westen haben wir gezeigt, dass bereits ab einer Entfernung von zehn Kilometern, und das hat relativ wenig mit Kosten zu tun, die damit verbunden sind, ab zehn Kilometer sinkt diese Studienneigung schon. Im Osten sehen wir das erst ab 40 Kilometer, wo dann Kosten wahrscheinlich eine deutlich größere Rolle spielen. Und unsere Erklärung ist eigentlich, dass es sich um Informationen einfach mal handelt.
    Wenn ich ab einer Entfernung von zehn Kilometern nicht studieren gehen will, dann hat das mit Sicherheit damit zu tun, dass ich an bestimmte Informationen zum Studium nicht herankomme beziehungsweise die Hochschulen auch nicht über ihren Radius drüber hinaus gehen, um bestimmte Informationen zum Studium halt anzubieten.
    Götzke: Sagt Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin. Er hat untersucht, was Abiturienten vom Studium abhält. Vielen Dank!
    Helbig: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.