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WM 2006
Das Sommermärchen - ein Mythos

Der Begriff vom Sommermärchen transportiert nichts weiter als einen Mythos. Die "Spiegel"-Enthüllungen kratzen daher auch nicht an den authentischen Erinnerung an die WM 2006, denn die waren ja real. Nur der Mythos könnte Schaden nehmen.

Von Jürgen Kalwa | 24.10.2015
    Menschen auf der Fanmeile in Berlin halten am 9. Juli 2006 ein Schild hoch mit der Aufschrift "Wir sind die Weltmeister der Herzen"
    Die Fanmeile in Berlin. (dpa / Picture Alliance / Miguel Villagran)
    Die Fernsehnachrichten kommen an dem Wort einfach nicht vorbei:
    "...berauschte sich Deutschland am sogenannten Sommermärchen...
    2006 in Deutschland - das Sommermärchen...
    deutsche Sommermärchen 2006...
    das WM-Sommermärchen von 2006."
    Und auch der DFB-Präsident nimmt den Begriff seit einer Woche - seit den Enthüllungen des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" - sehr zielgerichtet in den Mund. Es geht darum, einen Markenbegriff zu schützen, der künstlich ist und kleben bleiben soll. Wie ein Panini-Bildchen.
    "Die WM 2006 war ein Sommermärchen, und sie ist ein Sommermärchen. Das Sommermärchen ist nicht zerstört."
    Das eigentlich Bemerkenswerte ist das Wort selbst. Was an den Ereignissen damals war ein Märchen? Zu einer "unglaubwürdigen und erfundenen" Geschichte, wie der Duden diese literarische Gattung definiert? Das hat zunächst einmal sehr viel mit einem Film zu tun: "Deutschland. Ein Sommermärchen". Ein Publikumserfolg mit einem eingängigen Titel, den sich Regisseur Sönke Wortmann bei Heinrich Heine besorgt hatte: "Deutschland. Ein Wintermärchen."
    Pathos und Klischee
    Von Heines Tiefgang und jener widerborstigen, satirischen Zustandsbeschreibung des Dichters, der in Frankreich im Exil lebte und seine Landsleute feinsinnig beschrieb, war er allerdings nicht inspiriert:
    "Noch immer das hölzern pedantische Volk, / Noch immer ein rechter Winkel / In jeder Bewegung, und im Gesicht / Der eingefrorene Dünkel... Sie fechten gut, sie trinken gut, / Und wenn sie die Hand dir reichen / Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie / Sind sentimentale Eichen."
    Dem Regisseur vom "Sommermärchen" ging es um etwas anderes. Er fand Pathos schließlich "wunderbar". Und Kitsch "nicht so schlimm". Klischees erst recht nicht.
    Film-Zitat Jürgen Klinsmann: "Die stehen mit dem Rücken zur Wand. Und wir knallen sie durch die Wand hindurch. Das machen wir heute."
    "Kurz gesagt, der Film zeigt uns ein Deutschland, das nicht der Realität entspricht", sagt Carola Daffner, Professorin an der Southern Illinois University in Carbondale. Sie ist Germanistin, stammt aus Regensburg und sie hat sich vor ein paar Jahren in einem Essay "Football, Mythology and Identity in Sönke Wortmann's 'Deutschland. Ein Sommermärchen" mit der Verklärung der WM beschäftigt. Ein sehr lesenswerter Text mit einer klaren Aussage. Der Film produziert, schreibt Daffner, einen "stilisierten und emotional aufgeladenen Traum vom Mythos Deutschland".
    Carola Daffner: "Die deutsche Mannschaft, die repräsentiert dieses imaginäre Deutschland. Die Spieler verkörpern deutsche Tugenden, deutsche Stärke, das neue optimistische Denken in Deutschland. Es ist also ein Deutschland, wie es sein könnte. Hier gibt es keine wirtschaftlichen Krisen oder sozialen Unterschiede oder Zukunftsängste. Stattdessen sehen wir immer wieder eine eingeschworene Mannschaft."
    Verklärung - selbst im Dokumentarfilm
    Scherenschnittartig und ohne Nuancen: "Es gibt gute Helden und es gibt Bösewichte. Und natürlich gibt es ein gutes Ende, das den Deutschen zeigt, dass man trotz einer Niederlage dieses neue positive Deutschland-Gefühl nicht besiegen kann."
    Eingeschworen übrigens von einem Trainer, der später in den USA in einem Interview erklärte, was den deutschen Fußballgeist angeblich ausmacht. In dem stecke - "vielleicht ist die in unserer DNA", sagte Jürgen Klinsmann - eine besondere Eigenschaft und schlug sogar eine Brücke zu beiden Weltkriegen: "Wir können nicht einfach verteidigen und uns zurückfallen lassen... Wir sind eine hart arbeitende Nation. Wir sind Macher."
    Folm-Zitat Jürgen Klinsmann: "Heute sind sie sind fällig, ich schwör's euch, Jungs. Die sind fällig. Absolut fällig. Okay?"
    Eine derart hart arbeitende Nation hat auch Macher-Qualitäten, wenn es um die Sternstunden des Fußballs geht. Dann fabriziert sie daraus gleich bedeutungsvolle Ableitungen zu gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsprozessen. Leider ohne öffentlichen Widerspruch. So brachte es Filmemacher Wortmann fertig, in seiner Inszenierung "Das Wunder von Bern" einen zentralen Sachverhalt komplett zu ignorieren. Das Mannschaftsgefüge vom Finale 1954 kam nicht aus dem Ruhrgebiet. Sage und schreibe fünf Spieler - fünf von elf - kamen aus einem einzigen Verein: dem 1. FC Kaiserslautern.
    Aber wen interessiert historische Präzision oder literarisches Erbe, wenn Verklärung so viel einfacher zu inszenieren ist. Verklärung selbst im Dokumentarfilm. Carola Daffner: "So versucht dann Wortmann als Filmemacher, wie er selbst sagt, diesen Mythos des deutschen "Wunders" weiterleben lassen. Da ist dann natürlich die Form eines Märchens viel effektiver als eine objektive Dokumentation."
    Was einer wohl schon früh geahnt hat. Der Spiritus Rector Jürgen Klinsmann. Der trat gleich nach der WM von seinem Amt zurück. Andere waren nicht so schlau.