Donnerstag, 25. April 2024

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Woran Napoleon nicht starb

Nur gut, dass Napoleon keine Glatze hatte, sonst wäre die Geschichtsschreibung um ein paar kriminalistische Haarspaltereien ärmer. Seit vierzig Jahren streiten sich nämlich Experten darüber, ob der französische Kaiser in seiner Verbannung auf der Insel Sankt Helena an einer Arsenvergiftung gestorben sei und wer ihm die gegebenenfalls zugefügt habe. Seit vierzig Jahren spielen Bonapartes Haarbüschel dabei eine zentrale Rolle. Denn in diesen Haaren wurde ein hoher, ja sogar tödlicher Arsengehalt nachgewiesen, und seither sind Mediziner, Historiker, Journalisten, Schriftsteller und Amateurdetektive aller Art mit den wildesten Theorien hervorgetreten.

17.11.2002
    Für die einen steckten die perfiden Engländer hinter der Sache; sie hatten den gefährlichsten Unruhestifter Europas zwar besiegt und gefangen genommen, doch sie hatten sich nicht getraut, Hand an ihn zu legen und ihn bloß weit weg geschafft: auf ein so gut wie unerreichbares Eiland mitten im Südatlantik, halbwegs zwischen Afrika und Brasilien. Aber die Regierung in London wusste, dass Napoleon gefährlich war, so lange er lebte; ihn definitiv zu beseitigen, lag also durchaus in ihrem Interesse. Andere Autoren verdächtigten eher französische Royalisten als Täter oder gar den Grafen Montholon, Napoleons engsten Vertrauten im Exil, dem er auch einen Großteil seines Vermögens vererbte. In der Tat war Montholon ein höchst dubioser Charakter, der als Mundschenk wohl auch die Gelegenheit hatte, seinem Herrn unbemerkt bestimmte Substanzen wie etwa Arsen einzuflößen.

    Dieses Arsen war im 19. Jahrhundert allerdings allgegenwärtig. Es war im Tapetenleim enthalten, dessen Ausdünstungen die Hausbewohner einatmeten, es wurde in Form von Rattengift ausgelegt, und selbst die Munition der Gewehre setzte beträchtliche Mengen von Arsen frei. Daher blieb den miteinander streitenden Parteien immer noch ein weiter Interpretationsspielraum angesichts der unumstößlichen Tatsache, dass Napoleons Haare einen abnormen Arsengehalt aufweisen. Das haben verschiedene Labortests in aller Welt wieder und wieder bestätigt: vom FBI in Washington bis zum Institut für Radiochemie der TU München und von der Eidgenössisch Technischen Hochschule Lausanne bis zum britischen Atomzentrum in Harwell.

    Jetzt aber, so sehen es zumindest die Beteiligten, hat eine neue wissenschaftliche Untersuchung endlich zu sicheren Erkenntnissen geführt: Ivan Ricordel vom toxikologischen Dienst der Pariser Polizeipräfektur konnte zusammen mit zwei anderen französischen Wissenschaftlern einige kaiserliche Haare mit ganz neuen physikalischen Methoden analysieren. Durch die Synchrotronstrahlung ist es nämlich möglich, die Zusammensetzung der Materie gewissermaßen in atomarer Vergrößerung zu erforschen. Die Ergebnisse wurden soeben im Novemberheft der populärwissenschaftlichen Zeitschrift "Science et Vie" veröffentlicht, und sie lauten wie folgt:

    Napoleons Haare sind derart von Arsen kontaminiert, dass selbst der stärkste Mann daran gleich mehrfach gestorben wäre. Und zwar nicht nur jene Haare, die ihm auf dem Totenbett abrasiert wurden, sondern auch Strähnen, die aus der Zeit vor dem Exil stammen. Sogar eine aus dem Jahr 1805, der Zeit seines Triumphs von Austerlitz, wies eine geradezu umwerfende Arsenkonzentration auf. Daraus ziehen die Forscher den Schluss, dass das Gift eben nicht durch innerliche Aufnahme über den Organismus bis in die Haarspitzen gelangt sein kann, sondern später von außen hinzugefügt worden sein muss. Das ist schon deshalb plausibel, weil Arsen damals auch als Konservierungsmittel für Felle und Pelze gebräuchlich war. Und welcher Besitzer einer so kostbaren Reliquie hätte nicht Sorge getragen, sie nach allen Regeln der Kunst zu konservieren?

    Freilich sind die Haarbesitzer als solche ein Problem. Die Überlieferung der bonapartensischen Locken lässt sich zwar einigermaßen nachvollziehen, aber wer steht dafür ein, dass es sich bei den Strähnen nicht von Anfang an um Falsifikate handelte? Das könnte nur eine gentechnische Untersuchung zeigen, für die man – immer um der geschichtlichen Wahrheit willen – seine Majestät im Invalidendom zu Paris würde stören müssen. Man müsste seinen Sarkophag aus rotem finnischen Quarzit, der auf einem Sockel aus grünem Vogesen-Granit steht, öffnen und im den schaurigen Gemisch aus Form und Auflösung den wissenschaftlichen Fortschritt walten lassen. Falls nicht, haben weiterhin die Buchautoren das Wort. 80.000 Werke gibt es schon über den Korsen. Da sind die nächsten Einwendungen und Antithesen betreffs Todesursache gewiss nicht fern.

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