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Zeitungssterben in Großbritannien
Nachrichtenhungrige Rentner rufen Abgeordneten an

Ohne gedruckte Lokalzeitung sind Menschen ohne Internet aufgeschmissen. Deshalb haben im britischen Harlow verzweifelte Rentner im Büro ihres Abgeordneten angerufen: Von ihm wollten sie erfahren, was sie sonst in der Zeitung lesen.

Von Ada von der Decken | 27.02.2019
Der 57-jährige Michael Casey ist in Harlow geboren und aufgewachsen.
Michael Casey betreut in Harlow ein Online-Portal mit Lokalnachrichten. (Deutschlandfunk/Ada von der Decken)
Harlow im englischen Essex ist eine recht junge Stadt, kaum mehr als 70 Jahre alt: Nach dem Zweiten Weltkrieg rasch auf der grünen Wiese hochgezogen, als Pendlerstadt für die wachsende Metropole London. Auf dem Reißbrett geplant; die schmucklosen Gebäude der Einkaufsstraße sind auf Funktionalität ausgelegt, nicht darauf, das Auge zu erfreuen.
Ältere Menschen trifft man etwa im Harvey-Shopping-Center: Dass ihre wöchentliche Lokalzeitung, der "Harlow Star", eingestellt wurde, sorgte für Unruhe:
"Mein Mann hat immer den Sportteil gelesen"
"Ich vermisse den Harlow Star. Jede Woche pünktlich um neun Uhr morgens wurde die Zeitung zugestellt. Das hat mir gefallen."
"Ich war traurig. Als erstes habe ich immer zu den Verlobungs-, Heirats- und Traueranzeigen geblättert."
"Wir möchten über Verbrechen Bescheid wissen, und darüber, was die Gemeinde für uns tut und was sonst los ist. Mein Mann hat immer den Sportteil gelesen. Ich habe gerne geschaut, welche Häuser zum Verkauf stehen."
Von lokalen Nachrichten abgeschnitten
Diese Menschen im Rentenalter lesen keine Nachrichten im Internet, teilen keine Posts aus der 10.000 Fans starken Facebook-Gruppe "Spotted in Harlow". Wenn es im Ort keine gedruckte Zeitung gibt, erfahren sie weder von Straßensperrungen oder abweichenden Müllabfuhrdaten noch vom Theaterprogramm. Sie sind von lokalen Nachrichten abgeschnitten. Robert Halfon von der konservativen Partei kommentierte die Schließung des Lokalblatts in der BBC:
"Es war eine totale Katastrophe für unsere Stadt. Ich hatte ältere Bewohner am Telefon, die mich anriefen und fragten, ob wir ihnen die Nachrichten schicken oder vorlesen könnten, weil sie nichts mitkriegen."
Anzeigenerlöse um 70 Prozent geschrumpft
Was im Ort vor sich geht, weiß Michael Casey. Er betreibt seit sechs Jahren das Online-Portal "Your Harlow" - "Dein Harlow". Blaulichtmeldungen, Bauvorhaben, Bühnenshows - er veröffentlicht bis zu zehn Artikel pro Tag. Die Buchhaltung macht seine Frau. Das sei kein Job, sondern ein Lifestyle, sagt der 57-Jährige, der in Harlow geboren und aufgewachsen ist. Ihm ist bewusst, dass seine Nachrichten die ältere "Offline"-Generation nicht erreichen.
"Meine Nachbarin Olive ist Ende 80. Wenn sie nach meiner Arbeit fragt, sagt sie: 'Was arbeitest du an dem Zappelgerät?' Und ich sage: 'Du meinst den Computer, das Internet?' Leute wie sie wünschen sich eine gedruckte Lokalzeitung."
Zwischen 2007 und 2017 ging die Zahl der verkauften überregionalen und lokalen Zeitungen in Großbritannien um die Hälfte zurück. Dieser Trend hält weiter an. Die Anzeigenerlöse, die früher den Löwenanteil der Umsätze ausmachten, sind binnen zehn Jahren um 70 Prozent geschrumpft. Das geht aus einem vor zwei Wochen veröffentlichten unabhängigen Bericht zur Mediensituation in Großbritannien hervor.
"Nichts als eine Karaoke-Zeitung"
Es wird überall gerechnet, gespart und geschlossen. Auch der Harlow Star hatte zuletzt keine Redaktion mehr in der Stadt. Um gut berichten zu können, müsse man vor Ort sein, sagt Michael Casey.
"Es ist ein Fehler, dass die großen Verlage ihre Lokalreporter abziehen. Ihr Fehler ist mein Vorteil. Mein Reden ist: Wenn du nicht vor Ort bist, bist du nichts als eine Karaoke-Zeitung."
Eine Karaoke-Zeitung ist eine Zeitung die sich als mehr ausgibt, als sie ist. Für Harlow gibt es inzwischen gute Nachrichten. Als Reaktion auf die Beschwerden der Bewohner bringt eine Zeitung, deren Berichtsgebiet bisher nur an Harlow heranreichte, nun eine wöchentliche Ausgabe für die Stadt auf den Markt.
Ein Promotion-Team verteilt den neuen "Harlow Guardian" zum Probelesen. Rentnerin Diane Jacobs hat eine Ausgabe in die Hand gedrückt bekommen und wirft einen ersten Blick darauf. Die Zeitung sei tatsächlich gar nicht so schlecht. Das Problem sei nur, dass viele Artikel und Anzeigen von außerhalb kämen.
Mylo Boyd ist Lokaljournalist in Harlow.
Milo Boyd ist Reporter für den "Harlow Guardian" (Deutschlandfunk/Ada von der Decken)
Milo Boyd ist der Reporter des "Harlow Guardian". Das meiste müsse er allerdings trotzdem aus der Ferne berichten, denn Harlow sei zu seinen bisherigen Berichtsgebieten hinzugekommen.
"Wir haben davon gehört, dass ältere Menschen ihren Abgeordneten anrufen und nach Neuigkeiten fragen, weil sie keine gedruckte Zeitung mehr hatten. Der Bedarf war offensichtlich. Also sind wir hergekommen."
"Über weite Teile des Landes wird nicht mehr berichtet"
Der "Harlow Guardian" kostet umgerechnet rund 80 Cent, der Star hingegen war kostenlos. Über die Schwierigkeit, klassischen Lokalzeitungsjournalismus als Geschäftsmodell zu erhalten, macht sich Milo Boyd keine Illusionen:
"Harlow steht sinnbildlich für das, was vielerorts geschieht: dass lokale Zeitungen sterben und über weite Teile des Landes nicht mehr berichtet wird. Ich finde es gut, dass mein Verlag etwas unternimmt, um die Lücke zu füllen, aber grundsätzlich ist das Geschäftmodell kaputt und es gilt herauszufinden, wie man Orte wie Harlow vernünftig versorgt."
Milo Boyd ist sich der schwierigen Aufgabe bewusst. Für die Älteren ist es erst einmal ein Lichtblick, dass eine neue gedruckte Zeitung am Platz ist. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob der "Harlow Guardian" Bestand haben wird.