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Zum Tod von Iring Fetscher
"Stammvater der politischen Ideengeschichte in der jüngeren Bundesrepublik"

Der deutsche Politikwissenschaftler Iring Fetscher ist tot. Er starb im Alter von 92 Jahren in Frankfurt am Main. Fletscher hatte Zeit seines Lebens eine "kindliche Neugier" für das Zeitgeschehen und intellektuelle Entwicklungen, erinnert sich Axel Honneth, Professor für politische Philosophie in Frankfurt.

Axel Honneth im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig | 20.07.2014
    Der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher starb im Alter von 92 Jahren.
    Der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher starb im Alter von 92 Jahren. (picture alliance / dpa / Peter Zschunke)
    O-Ton Iring Fetscher: "Selbst ein so disziplinierter und verantwortungsbewusster Politiker der Partei wie Helmut Schmidt protestiert gegen den Einsatz von Raketen und Bomben der Nato unter Hinweis auf die Souveränität Jugoslawiens und den damit erfolgten Bruch des traditionellen Völkerrechts. Aber zweifellos ist das zum Teil ungeschriebene Völkerrecht im Wandel begriffen und die Vergewaltigung einer ethnischen oder religiösen Minderheit im eigenen Lande wird nicht mehr ohne Weiteres als innere Angelegenheit eines souveränen Staates angesehen, die die Völkergemeinschaft nichts angeht."
    Rainer Berthold Schossig: Die Jugoslawien-Krise und die Zerreißprobe der SPD. Das war die Stimme von Iring Fetscher in einer Aufnahme aus dem Jahre 1999. Der deutsche Politikwissenschaftler ist tot. 1922 in Marbach geboren ist Fetscher gestern im Alter von 92 Jahren in Frankfurt am Main gestorben. Ich habe darüber mit Axel Honneth geredet, Professor für politische Philosophie in Frankfurt und Direktor des Deutschen Instituts für Sozialforschung.
    1963 wurde Fetscher Professor für wissenschaftliche Politik an die Johann Wolfgang Goethe-Universität berufen - auf Betreiben übrigens von Max Horkheimer. War es nun eine Intrige gegen den Erstplatzierten Golo Mann, Herr Honneth?
    Axel Honneth: Oh, diese Geschichten, die wurden lange, lange diskutiert. Da gibt es auch Hintergrundinformationen. Ich habe mir da nie ein klares Bild machen können, muss ich gestehen. Wenn man zurückschaut, gab es sicherlich viele gute inhaltliche Gründe, auch Iring Fetscher zu berufen. Ganz ohne Frage ist es die hohe Qualifikation damals gewesen. Er war damals schon hervorgetreten nicht nur mit einem Buch über Hegel, das er in jungen Jahren geschrieben hatte, ich glaube als Promotion, und mit einer bahnbrechenden Untersuchung zur politischen Philosophie Rousseaus. Also es gab sehr, sehr gute Gründe. Ob es nun auch im Hintergrund irgendwelche Absprachen gab, irgendwelche Beeinflussungen, Manipulationen, kann ich von heute aus nicht beurteilen.
    Schossig: Fetschers Hauptinteresse galt ja den verschiedenen Richtungen des europäischen Marxismus. Lag hier vielleicht das zentrale Verdienst des Politologen?
    Honneth: Es gab viele Verdienste. Ich muss sagen, als ich anfing zu studieren, 1969, war er schon so etwas wie der Stammvater der politischen Ideengeschichte in der jüngeren Bundesrepublik. Und man stieß unweigerlich auf sein Werk. Ich nannte schon die beiden großen Bücher über Hegel und über Rousseau. Es folgten dann große Untersuchungen über den Marxismus, ich glaube, eine vierbändige Studienausgabe auch. Zu der Zeit war er ja auch unglaublich aktiv in der intellektuellen Vermittlung. Wenn ich mich recht erinnere - er hat mir das selber mal geschildert -, hatte er damals großes Interesse an Gesprächen mit Sartre, führte auch Gespräche mit Sartre, führte Gespräche mit Georg Lukács, die dann auch veröffentlicht wurden, brachte uns, also uns Jüngeren, diese großen Denker einfach nahe hier in Deutschland.
    "Er war beherzter Sozialdemokrat"
    Schossig: Insofern war er auch in gewisser Weise ein idealer Vertreter der Sozialdemokratie, deren Grundwerte-Kommission er ja unter anderem angehörte.
    Honneth: Richtig! Er war beherzter Sozialdemokrat. Immer wenn ich ihm begegnete, ich glaube, die Gespräche begannen immer mit seiner Wut über bestimmte Fehlentwicklungen in der SPD.
    Schossig: Kanalarbeiter.
    Honneth: Ja, unglaublich engagiert an der Stelle.
    Schossig: Vielleicht hatte er auch deswegen den wunderbaren Spitznamen „Fernsehprofessor".
    Honneth: Eine Zeit lang war er tatsächlich sehr präsent. Das war in den letzten Jahren natürlich nicht mehr so. Aber er blieb bis zum Ende - ich glaube, zuletzt habe ich ihn, ich schätze, vor einem halben Jahr gesehen - an allen intellektuellen Entwicklungen vital interessiert. Wenn wir öffentliche Vorträge im Institut für Sozialforschung hatten, kam er mit seinem eigenen Auto, ist mir unvergesslich, noch mit 90 vorgefahren und nahm an den Gesprächen teil und war immer der erste, der sich meldete, und das im Alter von 90. Das muss man sich klar machen. Er besaß dieses Runduminteresse an allem Zeitgeschehen, an intellektuellen Entwicklungen, an neuen, an jungen Leuten, versuchte, mit denen ins Gespräch zu kommen, war überhaupt ein - wie soll ich sagen? -, er war ein höchst angenehmer, manchmal geradezu kindlich auftretender Mann mit einer kindlichen Neugier.
    Schossig: Nun war Fetscher ja alles andere als ein Parteigänger des real existierenden Sozialismus und dessen Lehren.
    Honneth: Ja.
    Schossig: Er kam aus einem katholischen Elternhaus. Er war bürgerlicher Forscher, kann man vielleicht sagen.
    Honneth: Ja.
    Interesse an Figuren mit schwierigen Lebensläufen
    Schossig: Wie war das aber dann möglich?
    Honneth: Nun, er hat ja seine eigene Lebensgeschichte versucht aufzuarbeiten. Dazu gehört ja diese eigentümliche Erfahrung, die er hat machen müssen, dass er sich in jungen Jahren noch zum Nationalsozialismus hat verführen lassen, obwohl das Elternhaus eher antinationalsozialistisch war und antifaschistisch. Er ist ja freiwillig, wenn ich mich recht erinnere, ins Militär eingetreten und stand nachher, nach der Durcharbeitung dieser Geschichte und einem Wandel, immer wie vor einem Rätsel und hat versucht, sich nachträglich klar zu machen, wie so etwas eigentlich in einer Lebensgeschichte passieren kann, dass man eine grundsätzlich auch politisch abgründige Entscheidung trifft. Das machte ihn vielleicht auch so interessiert an schwierigen Lebensläufen. Die hat er immer bewahrt. Dieses Interesse - ich nannte das schon - an Lukács, auch eine schwierige Person der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Marxismus, jemand, der Stalinist war und später dann eigentlich ein demokratischer Marxist wurde und noch, wenn ich mich recht erinnere, glaube ich, den Prager Frühling unterstütz hat, an solchen Figuren hatte er ein wahnsinniges Interesse.
    Schossig: Was ist oder was bleibt Iring Fetschers Vermächtnis?
    Honneth: Sicherlich ein großes Werk der politischen Ideengeschichte. Auch zukünftige Generationen werden auf diese Bücher wieder zurückgreifen müssen, wenn sie sich die große Tradition der politischen Philosophie aneignen müssen - gar keine Frage.
    Schossig: Das waren Gedanken und Erinnerungen von Axel Honneth, Professor für politische Philosophie in Frankfurt, zum Tode des Politikwissenschaftler Iring Fetscher, der gestern im Alter von 92 Jahren gestorben ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.