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1984 irgendwo in Lateinamerika

Der neue Roman von Jenny Erpenbeck handelt von einer jungen Frau, die ihre Sprache verliert. Und das dazu in einem Land, in dem die Bezeichnungen für Dinge nicht das zu scheinen seien, was sie wirklich sind. Das stellt ihr Leben auf den Kopf. Eine Verhaftung wird für sie zum Tanz, Gruseliges schön.

Von Gisa Funck | 01.04.2005
    Das menschliche Denken ist an die Sprache gebunden. Und jede ernste Sprachkrise geht darum notwendig mit einer Identitätskrise einher. Wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren, fehlt dem Menschen ein Beschreibungsmodell, um sich seiner selbst zu vergewissern. Von genau solch’ einem Prozess der Selbst-Verunsicherung erzählt Jenny Erpenbecks zweiter Roman, der nicht umsonst den Titel Wörterbuch trägt. Ihre Ich-Erzählerin leidet nämlich an einem Sprachproblem im weitesten Sinne. Die Wörter, die ihr einst als Kind ganz selbstverständlich über die Lippen kamen, klingen für die junge Frau nun plötzlich falsch. Also blickt sie noch einmal zurück in ihre Vergangenheit. Zurück in die Zeit, als sie anfing, sprechen zu lernen:

    "Ich sehe einen Baum und sage Baum. Ich rieche Kuchen, den meine Mutter am Sonntag bäckt, und sage Kuchen. Ich höre einen Vogel im Garten zwitschern, und meine Mutter sagt: Ja, ein Vogel. Das waren vielleicht die einzigen Wörter, die heil waren, als ich sie lernte. Und auch die dann verkehrt, aus mir herausgerissen und andersherum wieder eingesetzt. Für mich standen die Worte fest, aber jetzt lass’ ich sie los, und wenn es nicht anders geht, schneide ich den einen oder anderen Fuß lieber mit ab."
    Wörterbuch spielt nicht im Deutschland der Vor- und Nachwendezeit, sondern in einer fiktiven, lateinamerikanischen Diktatur. Je mehr Wörter die Erzählerin als Kind lernt, desto häufiger muss sie erfahren, dass die Sprache – und mit ihr die Welt – auch dunkle Löcher birgt. Da gibt es Tabu-Themen, über die man besser gar nicht spricht. Und andere Themen, über die man nur in vor gestanzten Floskeln redet. So wie etwa über den Tod des Onkels. Der Onkel der Erzählerin, so erfährt man in Wörterbuch, machte nie einen Hehl aus seiner kritischen Gesinnung. Irgendwann wurde er von einem Auto überfahren, während seine Frau direkt neben ihm stand. Die Frau blieb unverletzt, der Onkel starb. Ein bisschen merkwürdig ist das schon. Doch seine Nichte gewöhnt sich schnell daran, dass man beim Onkel prinzipiell nur von einem Autounfall redet, obwohl sein Tod wahrscheinlich ganz andere und viel weniger zufällige Gründe hatte. Genauso brav lernt die Schülerin bald schon andere Formeln, die Eltern und Lehrer ihr beibringen. Beispielsweise den Merksatz, wonach in ihrem Heimatland angeblich immer die Sonne scheint. Oder, dass die Schüler Uniformen tragen, um eins und gleich miteinander zu werden. Oder, dass unbedingt Ordnung im Land herrschen muss, wie der Vater, ein Polizeikommandant, ständig betont. Die Erziehung der Erzählerin entpuppt sich mehr und mehr als ideologische Indoktrination. Eine Gefahr, die nach Meinung von Jenny Erpenbeck letztlich in jeder Kindererziehung steckt:

    "Wenn man sich Erziehung als Modell anschaut, ist jede Erziehung eine Diktatur. Und jedes Kind ist der totalen Übermacht ausgesetzt. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, lernt es ja die Wörter erst einmal wertfrei, so zusagen. Es lernt, dass ein Haus ein Haus ist. Aber es kennt noch nicht so viele Häuser, und im Laufe des Lebens lernt man ja praktisch immer mehr Dinge, die zu den Wörtern dazugehören. Und dann, irgendwann, lernt man auch, dass die Wörter immer so eine Schicht sind, die zwischen einem selbst und den Dingen steht – und einen auch irgendwie davon trennt. Und auch Täuschung ermöglicht. Also, dass Wörter nicht unbedingt das Greifen der Wirklichkeit ermöglichen, sondern eher sogar das Verschwinden der Wirklichkeit."

    Tatsächlich erweist sich das Heimatland der Erzählerin in Wörterbuch als totalitäres Schreckens-Regime, wie es sich George Orwell nicht gruseliger hätte ausdenken können. Nur klingt das bei Erpenbeck viel harmloser als bei Orwell. Das liegt vor allem an der kindlich-naiven Erzählperspektive, die die Berliner Autorin für ihre Parabel einer weit reichenden Verführung gewählt hat. Denn, wenngleich Erpenbecks Erzählerin eigentlich schon erwachsen ist, spricht die junge Frau doch immer noch wie ein Kind. Dadurch baut sich schnell ein Spannungsverhältnis im Roman auf: zwischen einem erschreckenden Inhalt – und einer niedlich-verharmlosenden Sprache. Die brutale Verhaftung einer Frau erschien dem Kind da etwa nur wie harmloser Tanz. Oder das Polizeigebäude, in dem der Vater arbeitete, kam der Tochter stets wie ein heller Palast vor: mit großen, freundlichen Fenstern, die sich später allerdings alle als nur aufgemalt herausstellen. Und natürlich kann sich die Erzählerin auch nicht daran erinnern, dass in ihrem Zuhause der ewigen Sonne jemals von Folter die Rede war. Allenfalls von Maßnahmen, die eine Konzentration, auf das Wesentliche befördern sollten, wie der Vater es nannte. Wie es für totalitäre Regime üblich ist, wird auch in Erpenbecks Überwachungs-Staat alles Negative strikt positiv umformuliert. Das Land ihrer Erzählerin erinnert stellenweise an die DDR. Es hat aber vor allem in der argentinischen Militärdiktatur ein historisches Vorbild:

    Die ursprüngliche Geschichte war eine Geschichte aus dieser Zeit 76 bis 83 in Argentinien, wo ja sehr viele Leute, politische Gegner der Militärdiktatur, eben verschleppt wurden. Auch schwangere Frauen wurden mitgenommen, und es gab viele Fälle, wo dann gewartet wurde, bis das Kind geboren war, dann wurde die Mutter umgebracht und das Kind oft Polizeibeamten gegeben oder verkauft. Und einer dieser Fälle hat mich so bewegt, weil die leiblichen Verwandten dann quasi nach diesem Enkelkind dann gesucht haben, und, als das Kind die Möglichkeit hatte, sich dann zu entscheiden praktisch für die leibliche Familie oder für diese falschen Eltern, die für die Diktatur gearbeitet haben, hat es sich eben für die falschen Eltern entschieden.

    Warum bleibt ein Kind selbst dann noch bei seinen Eltern, wenn sich diese nicht nur als Mörder, sondern auch noch als falsche Eltern herausstellen? Ja, mehr noch: wenn sich diese falschen Eltern sogar noch als Mörder der wahren Mutter und des wahren Vaters entpuppen? Das waren die Fragen, die Jenny Erpenbeck nicht mehr los ließen, nachdem sie vom Fall in Argentinien gehört hatte. Ihr Versuch einer Antwort, den sie mit Wörterbuch nun vorlegt, liest sich ebenso einleuchtend wie höchst beängstigend. Denn die Manipulation ihrer Erzählerin verläuft hierin tatsächlich so erfolgreich, dass diese sich als Persönlichkeit quasi vollständig auflöst. Da niemand dem Mädchen dabei hilft, die Bedeutungsebenen zu unterscheiden, vermischen sich schon bald die Verbote und Merksätze mit kindlichen Phantasien. Ein geplatzter Autorreifen klingt da für das Kind wie ein Schuss. Oder zwei aus einem Flugzeug geworfene Leichen erscheinen ihm wie zwei Engel. Schon bald weiß weder sie noch der Leser, was wirklich in ihrer Vergangenheit passiert ist - oder was nur der Einbildung entspringt. Je mehr dem Mädchen der Vergleichsmaßstab abhanden kommt, desto fester klammert es sich an seine falschen Eltern. Bis sich die Tochter zusammen mit dem Vater sogar auf die Flucht begibt – an die Schneegrenze des Bewusstseins, wie es im Buch heißt. Die Erzählerin will von den elterlichen Verbrechen nichts wissen. Selbst dann noch nicht, als der Vater verhaftet und dafür verurteilt wird. Zu untrennbar sind seine Lügen mit ihrer Geschichte verknüpft:

    "Ich glaube, dass jemand, der so etwas erlebt hat, da stellt sich nicht die Frage, ob Opfer oder Täter, sondern der steht ja irgendwie vor der Frage, wo jetzt seine Geschichte eigentlich geblieben ist. Denn in dem Moment, wo man erfährt, dass das ganze bisherige Leben auf einer Lüge basiert hat, fällt es sozusagen weg. Und offiziell heißt es dann eben, so wie auch in dem Buch, sie sei befreit von dieser falschen Geschichte. Aber sie bekommt natürlich nachträglich nichts dafür. Sie kann sich die Kindheit nachträglich nicht noch mal richtig rücken. Und das ist, glaube ich, das Problem, dass sie versucht zu schauen, ob noch etwas von ihr übrig ist, und sie stellt am Ende fest, es ist nichts übrig."

    Erpenbeck hat mit Wörterbuch/ ein bitterböses Gleichnis auf eine perfekte Manipulation des Gewissens geschrieben. Doch birgt ihre Ohnmacht-Perspektive einer willfährigen Mitläuferin naturgemäß ein erzähltechnisches Problem. Ihre Erzählerin ist von vorneherein ein dermaßen fehl geleitetes Opfer, dass man sie für nichts mehr verantwortlich machen kann. Die Frage nach einer Schuld erübrigt sich von daher ebenso wie alle Möglichkeiten zu einer Persönlichkeitsentwicklung. Deshalb liest sich ihr Fall letztlich nur wenig überraschend. Der Monolog ihrer Erzählerin, die immer wieder und geradezu mantrenhaft die alten Lügen wiederholt, zeigt aber gleichzeitig eindringlich, wie es unter bestimmten Umständen gerade die Opfer sind, die zu besonders uneinsichtigen Tätern werden.
    Jenny Erpenbeck: Wörterbuch, Eichborn Verlag Berlin, 116 Seiten, 14,90 Euro.