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Abgeschmackte Stimmungsmacherei

Das Schicksal kommt im Roman "Lea" von Pascal Mercier schnell auf Touren und der Schwulst ebenfalls. Doch wo es dermaßen abgeht, saust der Erfolg bekanntlich gerne hinterher.

Von Eberhard Falcke | 10.06.2007
    Das Schicksal schlägt zu und zwar mit dem großen Hammer; Vier Tote und eine zerschmetterte Geige aus dem berühmten Hause Guarneri. Zwei berufsunfähige Männer, eine Scheidung, eine Unterschlagung von Millionen. Leukämie, krankhafte Eifersucht, künstlerischer Wahn, Gedächtnisverlust, Ekzeme an den Fingerkuppen und geistiger Zusammenbruch.

    Der feinsinnige, der allem Anschein nach so zartfühlende Pascal Mercier, der als Peter Bieri über die Freiheit philosophiert und gerne betont, dass er den Machern dieser Welt nicht über den Weg traut, er drischt auf seine Figuren mit dem Schicksalshammer ein, dass es nur so kracht und fast schon wieder komisch wirkt.

    Leicht hatten es seine Helden ja noch nie. Erzählt er doch von Menschen, die nichts anderes als das Gute, Wahre und Schöne wollen, aber die Welt und das Schicksal lassen sie nicht. Und geht es uns nicht allen so, im Grunde, im allertiefsten? Jedenfalls wird dieser Autor von Millionen bestens verstanden.

    Von dergleichen verständlichen Dinge handelt auch Merciers neuester Roman mit dem ebenso lapidaren wie irgendwie elegischen Titel "Lea". Nur dass es der Erfolgsautor hier darauf angelegt hat, die großen Themen von Tod und Kunst, Leben und Leiden zugunsten tränenseliger Unterhaltsamkeit besonders billig zu verschachern.

    Dabei fängt alles, wie bei diesem Autor üblich, überaus manierlich an. In der Provence treffen an einem windigen Morgen zwei Männer in einem Straßencafé zusammen. Beide haben schon viel erlebt, wovon sie sich nicht mehr erholen werden. Kaum sind ein paar Worte gewechselt, lädt der eine den andern schon ein, den Rückweg ins heimische Bern gemeinsam mit seinem Auto zu absolvieren.

    "''Van Vliet', sagte er, 'Martijn van Vliet'. Ich gab ihm die Hand. 'Herzog, Adrian Herzog.'

    Er habe hier für ein paar Tage gewohnt, sagte er, und nach einer Pause, in der sein Gesicht älter und dunkler zu werden schien, fügte er hinzu: 'in Erinnerung an ... an früher'.

    Irgendwann auf unserer Fahrt würde er mir die Geschichte erzählen. Es würde eine traurige Geschichte sein, eine Geschichte, die weh tat. Ich hatte das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun.""

    Eine Geschichte, die weh tut, wird also gleich zu Beginn versprochen, damit sich die gehörige Spannung aufbauen kann. Hinzu kommt das Miteinander der zwei traurigen Männer - eines unglücklichen und eines todunglücklichen. Daraus besteht die Rahmenhandlung. Martijn van Vliet, der Todunglückliche, erzählt Adrian Herzog, dem Unglücklichen, seine schmerzliche Geschichte auf der gemeinsamen Rückfahrt von Südfrankreich nach Bern.

    Beide Männer haben Schweres durchgemacht. Beiden zittern deshalb manchmal die Hände. Adrian erlitt einige schwerwiegende Lebensverunsicherungen: Seine Frau hat sich von ihm getrennt, seine Tochter begegnet ihm mit kalter Distanz, ein Beinahe-Unfall mit einem Jungen vor der Kühlerhaube seines Wagens hat ihn traumatisiert. Einst ein hervorragender Chirurg konnte er plötzlich nicht mehr operieren und musste in den vorzeitigen Ruhestand.

    Die Ursachen für Martijns Zittern dagegen nehmen den breiten Raum des ganzen Romans ein. Seine geliebte Frau starb an Leukämie. Er und die kleine Tochter Lea blieben untröstlich zurück. Da hörten sie eines Tages auf dem Bahnhof eine junge Geigerin, die für Kleingeld die Partita in E-Dur von Bach spielte. Die achtjährige Lea hielt inne, lauschte und war von einem Moment auf den andern wie verzaubert. Der Vater bemerkte an ihr eine tiefgreifende Verwandlung.

    "Ich spürte, und es traf mich wie ein elektrischer Schlag: Während ihrer Versunkenheit hatte sich ein neuer Wille gebildet, und es war eine neue Selbständigkeit entstanden, von der sie noch nichts wußte. [...]

    Als sich unsere Blicke jetzt trafen, war es für einen Augenblick, den ich mit übergroßer Wachheit erlebte, wie die Begegnung zwischen zwei Erwachsenen mit ebenbürtigem Willen. Da stand nicht mehr eine kleine, schutzbedürftige Tochter ihrem großen, beschützenden Vater gegenüber, sondern eine junge Frau, die von einem Willen und einer Zukunft ausgefüllt wurde, für die sie unbedingten Respekt forderte.

    In jenem Augenblick spürte ich, dass zwischen uns eine neue Zeitrechnung begann."

    Die achtjährige Lea bekommt fortan Geigenunterricht und wird von Trauer und Depression erlöst durch die Hingabe an die Kunst. Doch damit fängt das große Verhängnis erst so richtig an, gemäß der Überzeugung des gemeinen Menschenverstandes, dass es ja wohl mit der Hingabe an die Kunst seine Tücken haben muss.

    Leas musikalische Fertigkeiten entwickeln sich märchenhaft. Sie liebt ihre Lehrerin mit dem seltsam vertrauten Namen Marie Pasteur über alles und wird von dieser über alles zurückgeliebt. Dennoch verfällt sie bald dem noch genialeren Lehrmeister David Lévy, dessen Name ebenfalls elegant und prominent klingt. Sie wird noch besser, spielt nun auf einer Amati-Geige, schon nach ein paar Konzerten lässt der Ruhm nicht mehr auf sich warten, und alle Welt nennt sie voller Bewunderung "Mademoiselle Bach". Zugleich aber muss der Vater bangen, weil er an der begnadeten Tochter alarmierende Anzeichen von Kälte und Entfremdung bemerkt. Irgendwie, man kann es nur so verschwommen sagen, weil es der Autor nicht deutlicher macht, irgendwie hat sich Lea wohl allzu verzweifelt in die Kunst geflüchtet, und irgendwie geht das dann auch nicht gut, sondern entsetzlich schief.

    "Vielleicht könnte man sagen, dass ein ungeheurer, beinahe sinnlich erfahrbarer Anspruch von ihr ausging, ein Anspruch, den sie vor allem an sich selbst richtete, der aber auch einen Schatten auf die anderen warf, die klein wurden, wenn er auf sie fiel.

    Vor allem galt dieser Anspruch dem Geigenspiel, der heiligen Messe der gestrichenen Töne, die sie zu zelebrieren verstand wie eine Hohepriesterin. Es wurde kühler im Raum, wenn diese Priesterin, wie Konkurrenten sie hinter ihrem Rücken nannten, hereinkam. Doch der selbstkasteiende Anspruch, der ihr diese Aura der Unnahbarkeit und Überforderung verlieh, wucherte über die Musik hinaus und vergiftete so manches andere."

    Das Schicksal kommt in diesem Roman schnell auf Touren und der Schwulst ebenfalls. Doch wo es dermaßen abgeht, saust der Erfolg bekanntlich gerne hinterher. Jedenfalls in der zu Recht so genannten schön traurigen Belletristik. Von Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon", der noch mit weniger Schicksalstotschlägen auskam, gingen allein in der deutschen Fassung 1,5 Millionen Exemplare über den Ladentisch. Das Buch wurde verschlungen in allen sozialen Schichten. Und auf "Lea", das neueste Werk, regnen im Internet bereits Fünf-Sterne-Schauer von Leserbegeisterung hernieder.

    Wie macht er das nur, der Herr Philosophieprofessor Peter Bieri, der unter dem eleganten Pseudonym Pascal Mercier mit dem Romane schreiben begann, weil er sich dabei von der Wissenschaft erholen wollte? Was "Lea" anbelangt, so lässt sich dazu Folgendes sagen: Hier hat sich der Autor offenbar nicht nur erholt und entspannt, sondern geradezu enthemmt. Hier hat er das Rührwerk und die Rüttelmaschine zur Herstellung von Erschütterung und Rührung rücksichtslos auf Hochtouren geschaltet. Erst lässt er Lea und mit ihr den mal begeisterten mal gequälten Vater himmelhoch in die Höhen steigen, und dann lässt er sie abgrundtief herunterknallen.

    Damit aber die Vorahnung dieses herzzerreißenden Endes den ganzen Roman in Gang halten kann, werden den Lesern unablässig Andeutungen als leckerer Köder vor die Nase gehalten. Schon nach kurzer Bekanntschaft verrät der Erzähler Adrian Herzog, dass es sich bei seinem Weggefährten um einen wahren Schmerzensmann handelt.

    "Ein gebräunter Mann, der Ende fünfzig sein mochte, Spuren des Alkohols unter den Augen, sonst aber mit dem Aussehen eines gesunden, kräftigen Mannes, dem man Sport zugetraut hätte, dahinter Trauer und Verzweiflung, die jederzeit in Wut und Haß umschlagen konnte, in Haß auch gegen sich selbst ...
    Jetzt kam er auf mich zu und blieb vor mir stehen. Die Art, wie es aus ihm herausbrach, bewies, wie sehr die Erinnerung in ihm gewütet hatte, als er am Wasser stand.

    In seinen Augen standen Tränen. Am liebsten wäre ich ihm mit der Hand über das windzerzauste Haar gefahren. Wie denn alles gekommen sei, fragte ich, nachdem wir uns an der Böschung in den Sand gesetzt hatten."

    Natürlich funktioniert der Trick. Wer möchte da nicht wissen, wie es weitergeht, was passiert ist und wie es zu der Katastrophe kam, deren Spuren sich in Martijn van Vliets verzweiflungsvolle Miene eingegraben haben. Es lässt einen nicht kalt, dieses Schicksalsdrama, das der zwischen Hoffnung und Verzweiflung gebeutelte Vater mit seiner von ihrer Musikleidenschaft besessenen Tochter durchmacht. Zweifellos: Das Buch ist spannend aufgebaut. Mit den gut gesetzten retardierenden Momenten, ein paar überraschenden Wendungen der Handlung und effektsicherem Drehen an der Unglücksschraube geht es bei dem relativ knappen Umfang von 250 Seiten flott dahin. Wer mitgeht, wird mitgenommen, und wer widerstrebt, ist ebenfalls von den Socken, weil ihn die Neugier plagt, wie weit es der Autor mit seiner Kunst- und Schicksals-Schmonzette wohl treiben mag.

    Inhaltlich allerdings erweist sich der ausgekochte Erzähltechniker als ein ungeheurer Biedermann. Denn im Zentrum steht nichts anderes als das schon im neunzehnten Jahrhundert zum Trivialmotiv heruntergekommene Thema von Genie und Wahnsinn, verpackt in ein ebenso hirnerweichendes wie herzergreifendes Schicksalsdrama. Dabei fällt es dem Autor gar nicht ein, irgendetwas zu durchleuchten, zu analysieren oder psychologisch begreiflich zu machen! Im Gegenteil: Er setzt ganz ungeniert auf die Spannungswerte der unerforschlichen Schicksalsmächte. Dasselbe hat die Literaturwissenschaft schon für die Rührstücke der Goethe-Zeit festgestellt: Abgeschmackte Stimmungsmacherei dient dort wie hier zur Erzeugung von Spannung und Nervenkitzel.

    Als sehr nützlich für diesen Zweck erweist sich zudem ein weiterer Trick: Der Autor legt, wie gesagt, um die eigentliche Geschichte einen doppelten Rahmen, indem er den Vater von seinem Unglück und den Erzähler von diesem gramgebeugten Menschen berichten lässt. Ähnlich vermittelte Erzählsituationen charakterisieren übrigens auch Merciers vorangegangene Roman. Dieser Kunstgriff hat den Vorteil, dass den Lesern damit gleich ein Rezeptionsmodell vorgesetzt wird. Wenn der Erzähler Adrian gegen Ende des Romans zermürbt von soviel Leid bekennt

    "Ich spürte, wie ich zusammensank. Ich wollte nichts mehr von diesem Unglück hören. Ich hatte keine Kraft mehr."

    dann ergeht damit zugleich an die Leser der Appell, beim gut berechneten Spiel mit der Erschütterung doch gefälligst mitzumachen. Dass dabei auch der literarische Geschmack schrecklich gebeutelt wird, gehört zu den noch viel zu wenig bemerkten Kollateralschäden der Mercier-Lektüre. Auf der Suche nach Superlativen für Leas Geigenspiel wusste der Autor offenbar keinen anderen Rat, als sich seine Inspiration auf dem Betschemel zu holen:

    "Dass meine Tochter solche Musik spielen konnte! Eine Musik von solcher Reinheit, Wärme und Tiefe! Ich suchte nach einem Wort, und nach einer Weile kam es: sakral. Sie spielte die Sonate von Bach, als baute sie mit jedem einzelnen Ton an einem Heiligtum. Entsprechend makellos waren die Töne: Sicher, rein und unverrückbar durchschnitten sie die Stille, die, je länger das Spiel dauerte, noch größer und tiefer zu werden schien. [...] Wie gesagt: sakral.

    Später, als ich mehr wußte, habe ich manchmal gedacht: Sie hat gespielt, als baute sie sich eine imaginäre Kathedrale aus Tönen, in der sie einmal geborgen sein könnte, wenn sie das Leben nicht mehr ertrüge."

    Womit wir beim Kitsch wären: Sakral, Reinheit, Heiligtum, Kathedrale. Und weil das offenbar noch nicht genug ist, muss später auf die Kathedrale noch ein Dom draufgesetzt werden, was, um im Bild zu bleiben, daran liegen mag, dass der Autor wohl streckenweise weniger geschrieben hat als georgelt. Wer aber in solchen Kolossal-Klischees über Kunst spricht - und sei es stellvertretend durch seine Figuren -, mit dessen künstlerischem Gespür und Gewissen kann es nicht weit her sein.

    Der Kitsch sei ein Imitationssystem, hob der kluge Hermann Broch einst in seinen einschlägigen Untersuchungen hervor. Tatsächlich ist Merciers "Lea" in dieser Hinsicht ein wahres Schatzkästlein, randvoll mit falschen Juwelen. Die abgedroschene Verbindung von Genie und Wahnsinn wurde schon genannt. Die durch Klischees hochgejubelte musikalische Passion gehört zur gleichen Preisklasse. Bei der beliebten Vater-Tochter-Thematik käme es auf eine qualifizierte Behandlung an, Mercier jedoch hat nur einen dürftigen Abklatsch geliefert. Der Versuch, den Protagonisten mit den Zügen von Kinohelden mehr Profil zu verleihen, geht daneben. Gelungen und von einigem Reiz sind dagegen immerhin die Szenen, in denen Martijn van Vliet mit einem verschrobenen alten Geigensammler drei Tage Schach spielt, weil er hofft, er könne seine Tochter retten, indem er ihr eine Guarneri del Gesù schenkt.

    "Der Alte deutete auf den Tisch. Erst jetzt sah ich, dass es auch ein Schachtisch war. 'Spielst Du?' Ich nickte. 'Wir schließen einen Handel', sagte er. "Eine Partie, nur eine. Du gewinnst - du bekommst die del Gesù umsonst; du verlierst - du zahlst mir mille milioni dafür." Er holte Figuren und stellte sie auf.

    Es würde die wichtigste Partie werden, die ich jemals zu spielen hatte."

    Allerdings ist auch dieser Showdown beim Spiel keine Szene, für die es nicht zahlreiche Vorbilder gäbe.

    Und wie steht es um Merciers angeblich so fabelhafte Fähigkeiten, über Gefühle zu schreiben? Man möchte sie dem Mann ja gerne zutrauen, der mit seinem weißen Schopf so sensibel aus allen Autorenfotos herausschaut, als wolle er am liebsten die Seelen seiner Leserinnen und Leser immer nur streicheln. Tatsächlich bringt er dann aber beim Gefühlsdiskurs doch nicht viel mehr zustande als wenig aussagekräftige Ansammlungen der üblicherweise zuständigen Haupt- und Eigenschaftswörter.

    Trotzdem scheinen sich solche heillosen literarischen Schwächen unter den Augen des großen Publikums auf geheimnisvolle Weise in einen Vorzug zu verwandeln. Mercier vermittelt seiner Leserschaft nämlich erfolgreich den Eindruck, dass er rundum für ihre literarische Wellness sorgt. Er signalisiert: Keine Angst, bei mir seid ihr gut aufgehoben, ich garantiere reibungslose Lektüre, mit Schwierigkeiten muss niemand rechnen. Zum Dank wird seine Sprache viel gelobt. Dafür gibt es ein paar, wenn auch keine guten Gründe. Sein Stil wirkt bei flüchtiger Betrachtung unangestrengt und damit natürlich, was zugleich heißt sympathisch. Tatsächlich kann man sich bei Merciers Kammerton gut aufgehoben fühlen, vorausgesetzt man möchte seine Bücher genauso bequem haben wie die Sitzmöbel, in denen man sie liest.

    Zur Bequemlichkeit trägt bei, dass auf dem Wege der leicht verkitschten Imitation mehr oder weniger bekannte Themen und Motive der Weltliteratur in leicht verträglicher Verdünnung mitgeliefert werden. Wenn Mercier etwa sein Kunst-Kind Lea mit einer handfest dem Leben zugewandten Klassenkameradin konfrontiert, dann liefert er damit zugleich die Discount-Version von Thomas Manns Tonio Kröger, der sich als Künstler unter den lebenstüchtigen Blonden und Blauäugigen so fremd fühlte.

    "Das Mädchen sah aus, als liebte es Pferde, Lagerfeuer und laute Gitarrenmusik. Eine Jeanne d'Arc im Körper eines kalifornischen Collegegirls. ... Es gab einen grellen, unversöhnlichen Kontrast zwischen den beiden heranwachsenden Mädchen, der auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kam: Hier Lillis sonnengegerbte, vor Gesundheit strotzende Haut; dort Leas alabasterner Teint, der sie leicht kränklich aussehen ließ. ... Hier Lillis gerader, stahlblauer Blick, bei dem die Lider stillstanden und der die Unversöhnlichkeit einer rechten Geraden hatte; dort Leas dunkler verschleierter Blick, der aus dem Schatten ihrer langen Wimpern heraus wirkte. Hier die robuste, bronzene, gewöhnliche Schönheit einer surfenden Bergkönigin; dort die bleiche, adlige, zerbrechliche Schönheit einer am Abgrund balancierenden Tonfee."

    Dummerweise will bei diesem Doppelporträt von Kunst-Lea und Lebens-Lilly einfach gar nichts stimmen. Das Thomas-Mann-Motiv wird hier nicht variiert sondern nur verballhornt. Jeanne d'Arc ist im Körper dieses Sportmädels völlig deplaziert. Der stahlblaue Frauenblick als rechte Gerade erscheint weniger gewagt als gemurkst. Die "bleiche, adlige, zerbrechliche Schönheit" mit alabasternem Teint taugt nur noch für Groschenromane. Und bei der "Tonfee" liegt die Poesie eher fern und die Töpferware allzu nah.

    Genug, kommen wir zum Schluss. Sie können es bezeugen, verehrte Hörerinnen und Hörer, diese Buchbesprechung ist hart aber fair. Vom Wichtigsten, nämlich dem dicken Ende des Romans, wurde nichts verraten. Nur, wie gesagt, so viel: Es gibt Tote, eine zerschmetterte Guarneri und inneres Zusammensacken auf allen Seiten. Sogar der Romanerzähler Adrian Herzog hätte sich am Ende der Rahmenhandlung, so steht es deutlich zwischen den Zeilen, aus diesem grausamen Leben am liebsten davongemacht. Doch er hat sich besonnen, er musste sich besinnen, um selbst grausam zu sein und als des Autors Strohmann diese schaurige Geschichte zu erzählen:

    "Es gibt Unglück von einer Größe, dass es ohne Worte nicht zu ertragen ist. Und so begann ich in der Morgendämmerung aufzuschreiben, was ich erfahren hatte seit jenem hellen, windigen Morgen in der Provence."

    Bleibt nur, diesem Roman ganz viele Leser zu wünschen, die nicht verstehen wollen, warum kritische Miesmacher hier von Kitsch reden. Dann klingelt die Kasse und der Hanser-Verleger Michael Krüger, der ein großer Querfinanzierer ist, kann weiterhin viele von den richtig guten Büchern machen, die eben leider meistens mehr kosten, als sie einbringen.


    Pascal Mercier: Lea
    Hanser Verlag, München 2007
    253 Seiten, 19,90 Euro