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Auf leisen Sohlen

Sie heißen Urban Explorer und fotografieren dort, wo es verboten ist: in verlassenen Sanatorien oder alten Brauereien, in leeren Labors und maroden Mühlen. "Mache nur Bilder, hinterlasse nichts als Fußabdrücke", lautet ihr ungeschriebenes Gesetz. Ob in Belgien, Frankreich, in den Niederlanden oder Deutschland – die Stadterkunder-Szene wächst und vernetzt sich.

Von Susanne von Schenck | 23.09.2012
    Sie sind in keinem Reiseführer beschrieben, sie sind vergessen: all die stillgelegten Fabriken, Sanatorien, Kraftwerke, Kasernen. Aber es sind genau diese Orte, die Urban Explorer, Stadterkunder, magisch anziehen. Zum Beispiel Stefan Bär, der gerade durch das Gras zum Hintereingang einer alten Mühle schleicht:

    "So, das Tor ist also offen, und wenn ich mich kleinmache, passe ich auch durch. Das ist so ein klassischer Fall, wo man nicht einbrechen muss, sondern einfach die Tür aufmacht und durch die Tür durchgeht."

    Wir sind im tiefsten Brandenburg. Stefan Bär, Anfang dreißig und Softwareentwickler aus Potsdam, hat sich durch das baufällige Holztor gezwängt und steht nun in der Eingangshalle der Mühle. Es ist still, Licht fällt durch ein Deckenfenster und beleuchtet Mauern, Boden und die wenigen Gerätschaften, die an der Wand stehen: verstaubte Siebe, Säcke, ein Besen. Das Gebäude ist noch relativ intakt, allerdings sehr sanierungsbedürftig.

    "Man möchte ungern Leuten, denen man nicht vertraut irgendwie ne Location bekannt geben, weil es sonst ansonsten sehr schnell um die Location geschehen sein kann. Es wird sehr viel Schaden angerichtet von Jugendlichen, im Raum von Berlin ist es ganz stark zu beobachten. Deshalb schützt man die Locations so gut es geht."

    Das sagt der Begleiter von Stefan Bär, der anonym bleiben möchte. Und die leer stehende Getreidemühle soll auch nicht näher lokalisiert werden. Denn sonst kommen gleich die Kabel- und Schrottmarder, wie die Urban Explorer, kurz Urbexer, die Metalldiebe nennen - und der Charme des Verfalls ist dahin.

    Stefan Bär und sein Freund haben ihre Fotoapparate ausgepackt, die Stative untergeklemmt und sind die Treppe in die erste Etage der Mühle hinaufgestiegen. Ein großer Raum, ausgefegt. In der Ecke hinten rechts befand sich früher die Werkstatt.

    "Da sieht man halt noch alte Gläser, da liegt noch ne Flasche Politur rum, hat mal 1,25 Mark gekostet, vom VEB Hydrierwerke Zeitz. Das sind dann so die kleinen Schätze, wenn man so was findet. Wenn man überlegt: den VEB gibt es sicher seit gut zwanzig Jahren nicht mehr, dann sieht das schon ganz lustig aus. Das ist ja das Reizvolle an diesen Objekten, obwohl: wenn man hier sieht an die Decken, ist wahrscheinlich einiges montiert, verkauft worden. Aber es ist noch genug da, um gute Fotomotive abzuliefern."

    An der Wand stehen noch graue Spinde, an die jemand einen großen Sack gelehnt hat. Alles wirkt, als wäre gerade Feierabend. Es hat etwas Magisches: wer durch das Tor eines verlassenen Ortes gegangen ist, begibt sich auf eine Zeitreise.

    "Man spürt fast noch, wie die Mühle funktioniert, man hört fast noch die Mühle mahlen, man kann sich noch plastisch vorstellen, wie der Müller hier mit dem Schraubenschlüssel durchgewetzt ist, weil ein Zahnrad blockiert ist. Man sieht zum Beispiel das Arbeitshemd vom Müller noch hängen und solche Sachen. Die ist noch gut in Schuss, und das ist halt der Reiz dieses Objekts."

    Genaugenommen ist es nicht erlaubt, in stillgelegte Fabrikareale und sonstige verfallene Gebäude einzudringen. Einige wie das junge Berliner Unternehmen "go2know" bieten für Hobbyfotografen daher offiziell genehmigte Touren durch solche Gebäude an. Urban Exploring light. Die echten Urbexer lächeln darüber.

    Urahn der Urban Explorer soll der Franzose Philibert Aspairt sein. 1793, während der Unruhen der Französischen Revolution, brach er immer wieder auf, um die Katakomben von Paris zu erforschen – bis er eines Tages im Labyrinth der kilometerlangen Gänge verschwand. Heute erinnert eine Gedenktafel im Pariser Quartier Latin an ihn.

    "Zum Gedenken an Philibert Aspairt, in den Steinbrüchen verirrt am 3. November 1793, elf Jahre später gefunden, dank seiner Schlüssel identifiziert und an gleicher Stelle am 30. April 1804 begraben."

    Die größten und ältesten "explorer communities" gibt es laut Internet in den USA und in Australien. Den Begriff "urban explorer" hingegen prägte 1996 ein Kanadier, Jeff Chapman, in seinem Magazin "Infiltration". Sein Ausspruch - "We're designed to explore and to play" bringt die Absicht auf den Punkt: nämlich den kindlichen Drang, unbekanntes Terrain zu erforschen, die Lust an der Grenzüberschreitung, auf ein Leben hinter dem Schild "Betreten verboten". Das reizt auch Marc Mielzarjewicz aus Halle an der Saale . Wie Stefan Bär und viele andere urban explorer ist auch er jedes Wochenende stundenlang unterwegs, um zu Fotografieren.

    "So, wir müssen uns erst mal unsichtbar machen."

    Ein prüfender Blick die Straße hinunter. Kein Auto in Sicht, kein Mensch unterwegs an diesem sonnigen Nachmittag im Osten Halles . Marc Mielzarjewicz quetscht sich an einem halb zugewachsenen Pförtnerhäuschen vorbei. Schon lange sitzt hier kein Mensch mehr und kontrolliert, wer kommt und geht.

    Der Blick öffnet sich auf ein großes Gelände. Es ist der ehemalige Schlachthof der Stadt, erbaut zwischen 1891 und 1893. Rechts vom Pförtnerhäuschen steht eine große Halle. Mit ihren Bögen, Portalen und alten Eisenträgern wirkt sie fast filigran, aber auch wie ein Skelett. Denn die Tore fehlen, die Dächer sind voller Löcher, die Fenster zerschlagen. Nur die Außenmauern stehen noch.

    "Das sind hier fünf Hektar, und zwei sind richtig bebaut. Und hier wurde früher geschlachtet: 8000 Rinder pro Jahr, 15.500 Kälber, 15.000 Schafe und 25.000 Schweine und 800 Pferde. Also das ist schon eine Hausnummer."

    Seit zwanzig Jahren Fotografiert Marc Mielzarjewicz alte, leer stehende Gebäude vor allem in seiner Heimatstadt Halle, aber auch in Leipzig oder Magdeburg. Vier Bücher, alle mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß Fotografien hat der Wirtschaftsinformatiker schon gemacht: "Lost Places" heißen sie. Aus den Bildern spricht leise Melancholie:

    "Die Schönheit des Verfalls, irgendwie hat es was faszinierendes, gerade wenn die Sonne jetzt hier so reinfällt. Also ist halt ein Mix. Zum einen, wenn man sich vorstellt, was mal hier war im täglichen Geschäft, dass mal ganz viele Leute hier gearbeitet haben, und jetzt ist hier die absolute Stille und wie sich die Natur halt dies Gebäude zurückerobert."

    Urban Exploring: Wer einmal mit dieser Form der Stadt- und auch Landerkundung angefangen hat, den lässt sie meist nicht mehr los. Stillgelegte Fabriken, verlassene Sanatorien oder ausrangierte Spionagestationen – für die urban explorer gibt es zahlreiche reizvolle Orte. Die meisten werden verschwinden. Was dann bleibt, sind die Bilder.

    Und die Erinnerungen.