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Ausstellung
Der Farbenmensch Ernst Ludwig Kirchner

Der deutsche Maler und Grafiker Ernst Ludwig Kirchner hat sich in seinem Schaffen mit der Farblehre beschäftigt und experimentiert. Die Ausstellung "Farbenmensch Kirchner" in der Münchner Pinakothek der Moderne ermöglicht den Einblick in den Arbeitsprozess des Expressionisten: Er hat regelmäßig Werke nachträglich geändert - auch wenn er das bestritt.

Von Julian Ignatowitsch | 29.05.2014
    Außenansicht der Pinakothek der Moderne in München.
    Die Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München zeigt neben Gemälden auch Röntgen-, UV- und Infrarotaufnahmen. (picture alliance / dpa - Krystof Kriz)
    Die Farbe ist nur ein Aspekt. Dass Ernst Ludwig Kirchner die grundlegenden Schriften zur Farbtheorie gekannt hat; sich Zeit seines Lebens mit der Farbenlehre beschäftigt und in seinen Werken damit experimentiert hat, dürfte kaum überraschen. Farbe als Ausdrucks- und Stilmittel des Empfindens - in den Bildern der deutschen Expressionisten ist das Programm.
    Farbsemantiken in Kirchners Bildern
    In Kirchners "Bildnis Dodo" ist das zu sehen: Entspannt sitzt die mondäne Dame im Sessel. Ihr Sommerkleid, Hut und Zimmer bilden eine Einheit aus Gelb- und Rot-Tönen. Es könnte alles so harmonisch sein, wäre da nicht das kühle Blau in ihrem Gesicht. Die Farbdissonanz macht aus dem schlichten Porträt einer Frau eine Reflexion über das Weibliche, die Liebe, über Schönheit und Vergänglichkeit. Beispiele solcher Farbsemantiken gibt es viele in den Bildern Kirchners. Einige davon sind in München zu sehen. So weit zu den Farben. So weit ist das aber auch nicht unbekannt. Viel interessanter ist das Darunter, das Dahinter, der Kirchner jenseits der Oberfläche. Kurator Oliver Kase:
    "Diese Ausstellung ist ein Ansatz Kirchner wieder als schaffenden Künstler wahrzunehmen und zu platzieren, indem man ihn viel stärker innerhalb seines Arbeitsprozesses versteht. Also es ist eine Ausstellung, die die Dynamik des Schaffensprozesses zum Ausdruck bringt."
    Malerische Doppelseitigkeit bei Kirchner
    Wie geschieht das? "Bildnis Dodo" ist ein gutes Beispiel. Geht man um die Trennwand in der Mitte des ersten Ausstellungsraumes herum, findet man ein zweites Bild auf der Rückseite der gleichen Leinwand: Masken auf der Straße von 1910, ein Jahr später entstanden. Das Bild ist um 90 Grad gekippt, Kirchner malte Vorder- und Rückseite versetzt zueinander. Aber was ist hier eigentlich Vorder- und was Rückseite? Folgt man dem Künstler, so betrachtete er die "Masken auf der Straße" als das reifere Gemälde, das Vorne. Dumm nur, dass Kuratoren und Kritiker es heutzutage meist anders sehen und die "Masken" nach hinten zur Wand kehren. Es gibt mehrere Fälle so einer malerischen Doppelseitigkeit bei Kirchner. Überhaupt hat er immer wieder überarbeitet, verbessert, angepasst, manipuliert:
    "Weil die Datierungen häufig bewusst falsch sind, weil man der Oberfläche nicht trauen kann, weil immer etwas dahinter liegt - und weil man die Biografie des Künstlers aus der Geschichte der Werke und ihrer Übermalung ablesen kann."
    Kirchner überarbeitete sein Werk immer wieder
    Nachträglich geändert, oft Jahre später, hat Kirchner seine Bilder regelmäßig - auch wenn er das in einem Brief einmal heftig bestreitet. Ein süddeutsch-schweizerisches Forschungsprojekt hat das kunsttechnologisch belegt und bildet die Grundlage der Ausstellung. Der Besucher kann sich davon selbst überzeugen. Röntgen-, UV- und Infrarotaufnahmen nebst Gemälden zeigen, wie der Künstler sein Werk immer wieder überarbeitet hat.
    Zum Beispiel die "Badenden Frauen", entstanden zwischen 1915 und 1925. Kirchner gestaltet sie abstrakter. Ein Ofenrohr verschwindet plötzlich genauso wie der gekachelte Fliesenboden. An deren Stelle tritt ein einheitlich gelber Hintergrund. Damit passt Kirchner sein Bild an die zeitgenössisch-klassizistischen Tendenzen in der Kunst an. Er datiert es aber trotzdem auf das ursprüngliche Entstehungsjahr. Ähnlich beim "Sitzenden Mädchens mit Hut" - 1909 entstanden, auf 1904 datiert. Diese kleinen, aber feinen Manipulationen zeigen, was ein Künstler der Avantgarde, hin und wieder unternehmen muss. Und damit zurück zur Farbe, denn auch sie spielt, wie Co-Kuratorin Heide Skowranek erklärt, eine wichtige Rolle bei der Selbstinszenierung des Künstlers:
    "Es gilt ja vielfach immer noch der Mythos, dass er die Farbe rauschhaft, eruptiv auf die Leinwand brachte. Aber bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass er malerische Methoden weiterentwickelte und Maltechniken anwandte, die diese Spontanität suggerieren."
    Kirchner beherrschte diese Techniken, die seine Bilder so spontan erscheinen lassen, perfekt - genauso wie die nötigen kleinen Kniffe zur wirksamen Selbstvermarktung. Weitere Zeugnisse wie Skizzen zu seinen großen Gemälden oder Fotografien aus seinem Atelier unterstreichen das. Der Blick unter die Oberfläche des Kunstwerks macht den Reiz der Münchner Ausstellung aus. Es stellt das Genie des bedeutenden, deutschen Künstlers des 20. Jahrhunderts aber nie infrage.