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Bauernbewegung gegen betriebswirtschaftlichen Eigennutz

Mit "Politik des Hungers" hat der Hamburger Verlag Assoziation A ein Buch des Alternativen-Nobelpreisträgers Walden Bello auf den deutschen Büchermarkt gebracht, das sich vor allem mit der Ernährungskrise aus der Sicht der Bauern - der Produzenten unserer Nahrung - beschäftigt.

Von Gerhard Klas | 30.08.2010
    In Europa ist die Nahrungsmittelkrise von 2008 fast schon wieder in Vergessenheit geraten - im globalen Süden dagegen wirkt sie bis heute nach: In vielen Ländern, die von Importen abhängig sind, steigen die Preise noch immer um zweistellige Prozentzahlen. Wenn man – wie Milliarden von Menschen – 80 Prozent seines Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben muss, führt diese Preissteigerung unmittelbar zu Hunger und Unterernährung. Eine Milliarde Menschen sind betroffen, mehr als jemals zuvor. Walden Bello geht in seinem Buch jedoch über eine kurzfristige Ursachenforschung weit hinaus: Zwar hätten die Spekulationen die Preise für Nahrungsmittel in die Höhe getrieben, entscheidend aber seien vielmehr – und hier unterscheidet sich die Analyse Bellos von vielen zeitgenössischen Kommentatoren – langfristige Entwicklungen der globalisierten Weltwirtschaft. Hunderte von Ländern sind durch die auf Exporte orientierte Weltwirtschaftspolitik heute abhängig von Nahrungsmittelimporten, viele Bauern mussten dort aufgeben und sind in den Slums der Großstädte gelandet. Zum Beispiel in Mexiko.

    Wie in aller Welt waren die Mexikaner, also die Bewohner des Landes, in dem Mais erstmals angebaut wurde, überhaupt in die Lage geraten, von Maisimporten aus den Vereinigten Staaten abhängig zu sein? Heute ist Mexiko ein Nettoimporteur von Nahrungsmitteln, der 40 Prozent seiner Nahrungsmittel von ausländischen Märkten bezieht, das ist weitgehend eine Folge des nunmehr 16-jährigen Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. US-amerikanischer Mais strömte in rauen Mengen ins Land; die Maispreise sanken um die Hälfte und der mexikanische Maissektor wurde in eine tiefe Krise gestürzt.
    Der US-Mais war hoch subventioniert, und ohne Zollschranken waren die mexikanischen Maisbauern zum Ruin verurteilt. Das sollte sich spätestens 2008 rächen: Die Nachfrage nach Ethanol als Benzinersatz und Spekulation mit Nahrungsmitteln trieben den Preis für Mais in ungeahnte Höhen. Die Maistortillas, ein Grundnahrungsmittel für die Mexikaner, wurden unerschwinglich. Revolten waren die Folge. Besondere Bedeutung misst Walden Bello der Welthandelsorganisation zu, die weltweit ähnliche Handelsbedingungen wie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen für Agrarprodukte festschreibt.

    Die Welthandelsorganisation soll die Ausweitung und Hegemonie industrieller Landwirtschaft gewährleisten, wie sie von den großen Konzernen betrieben wird: durch institutionelle Festschreibung sowohl der Grundsätze des Freihandels als auch monopolistischer intellektueller Eigentumsrechte, die den Ausbau global integrierter Produktionsketten begünstigen. Solche Ketten bestehen aus großen Produzenten landwirtschaftlicher Inputfaktoren, aus großen Farmen und aus großen Vertriebsgesellschaften, die einen globalen Supermarkt für Konsumenten aus der Elite und der Mittelschicht beliefern.
    Walden Bello ist sich sicher: Die Kleinbauern der Welt sind durchaus in der Lage, die Menschheit zu ernähren. Dafür führt er zahlreiche Bespiele an, unter anderem, dass der in Südasien konsumierte Reis bis heute hauptsächlich von 200 Millionen Kleinbauern produziert wird. Auch ein Blick zurück ist aufschlussreich, denn entgegen landläufiger Überzeugungen konnten sich die heutigen Hungerregionen der Welt einst selbst mit Nahrungsmitteln versorgen.

    Die afrikanische Landwirtschaft ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich durch doktrinäre Wirtschaftspolitik die produktive Basis eines ganzen Kontinents zerstören lässt. Zur Zeit der Entkolonialisierung in den 1960er-Jahren war Afrika nicht nur in der Lage, sich selbst mit Nahrungsmitteln zu versorgen, sondern der Kontinent war auch ein Nettoexporteur von Nahrungsmitteln. Heute importiert Afrika 25 Prozent seiner Nahrungsmittel; Hunger und Hungersnöte sind zu wiederkehrenden Erscheinungen geworden.
    Trotz der mächtigen Bedrohungen ist der Bauernstand noch nicht verschwunden. In seinem letzten Kapitel beschäftigt sich der Buchautor mit dem Widerstand der Kleinbauern. Erstmals in der Geschichte der Menschheit haben sie sich international zusammengeschlossen – in der Bauernbewegung La Via Campesina, die weltweit etwa 200 Millionen Mitglieder zählt. Ihr Gegenkonzept heißt Ernährungssouveränität. Vor allem solle zunächst für den regionalen Konsum produziert werden und im Einklang mit der Natur, an der kein Raubbau betrieben werden dürfe. Im Gegensatz zur industriellen Landwirtschaft, die auf kurzfristige betriebswirtschaftliche Gewinne spekuliert, ist die kleinbäuerliche Perspektive eine langfristige. Für Walden Bello sind Organisationen wie La Via Campesina Hoffnungsträger gesellschaftlicher Veränderung.

    Die Bewegung sieht traditionelle Produktionsweisen als sehr wertvoll an. Sie geht davon aus, dass solche Produktionsweisen ein Wissen enthalten, dass aus jahrhundertelanger Interaktion mit der Biosphäre hervorgegangen ist. Bei dieser Haltung handelt es sich nicht um eine Romantisierung der Vergangenheit. Viele Befürworter der kleinbäuerlichen Landwirtschaft streben eine Symbiose aus fortgeschrittener Wissenschaft und kleinbäuerlichem Landbau an, eine Symbiose, die den kleinbäuerlichen Landbau zur Grundlage nimmt, anstatt ihn zu zerstören.
    Auch viele Umweltverbände und Konsumenten messen dem ökologischen, kleinteiligen Landbau heute eine große Bedeutung zu. Dennoch hat Walden Bello kein Jubelbuch geschrieben, sondern weist auch auf Leerstellen hin: Obwohl La Via Campesina die Bündnisarbeit mit anderen gesellschaftlichen Kräften sucht, fällt es der Bauernbewegung noch schwer, die Bedeutung ihres Konzepts der Ernährungssouveränität für die städtische Bevölkerung und die Industriearbeiterschaft zu definieren. Aber eine Schnittmenge macht Walden Bello deutlich: Die von ihm skizzierte Bauernbewegung will, wie viele andere gesellschaftliche Akteure auch, die Ökonomie gesellschaftlichen Interessen unterordnen und nicht einfach die vielzitierte "unsichtbare Hand des Marktes" walten lassen, die nur den betriebswirtschaftlichen Eigennutz im Sinn hat. Der Träger des Alternativen Nobelpreises entkräftet klassische Vorurteile gegenüber der Bauernschaft und belegt anhand von Zahlen, Fakten und Geschichten, dass sie eben nicht rückständig und zurückgeblieben ist, sondern ein Schüssel zur Lösung globaler Krisen sein kann.

    Gerhard Klas über Walden Bello: Politik des Hungers. Erschienen bei Assoziation A, 200 Seiten für 16 Euro, ISBN 978-3-935936-91-0.