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Befreier und Besatzer

Der Berliner Journalist Volker Koop schildert unter dem Titel "Besetzt" die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland. Ihm geht es dabei vor allem um die Sicht der Deutschen. Ins Hintertreffen geraten dabei Zeugnisse der amerikanischen Soldaten. Claudia Hennen hat das Buch gelesen.

18.12.2006
    "Plötzlich fuhr ein amerikanischer Panzer durchs Dorf. Wie von Geisterhand hing auf einmal eine weiße Flagge am Kirchturm. In wenigen Minuten standen alle Einwohner an der Straße und winkten diesen ankommenden amerikanischen Soldaten zu. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich an meiner Mütze noch das HJ-Abzeichen hatte, und ich rannte in unseren Keller zurück, machte das Abzeichen ab und zerschlug es, bis nichts mehr davon übrig war. Das war mein Abschied vom Dritten Reich in diesem Moment."

    Unvergesslich blieb für den Filmemacher Edgar Reitz der Tag im April 1945, als die Amerikaner in seinen Heimatort Morbach im Hunsrück einmarschierten. Nicht überall wurden die Truppen so friedlich empfangen wie hier. Trotzdem überwiegt bis heute das Bild des lachenden GIs, der mit Schokolade, Kaugummis oder Zigaretten den Deutschen die Niederlage versüßte. Volker Koop gibt sich in seinem Buch redlich Mühe, dieses Klischee zu demontieren. Zunächst schildert er diverse Vorüberlegungen der US-Streitkräfte, die "kein Pardon" für Deutschland forderten. Deutschland ist Feindesland, jeder Deutsche ein Feind – das beschwor etwa eine amerikanische Armeebroschüre, die noch 1946 jeder Soldat zur Vorbereitung seines Dienstes in Deutschland erhielt. Unter anderem hieß es darin:

    "Deutsche Reinlichkeit ist so sehr typisch, dass man Seife aus menschlichen Körpern gefertigt hat. Deutsche Medizin ist so hoch entwickelt, dass sie Menschen als Experimentierobjekte zu verwenden lernten. Die Nazi-Kunst schenkte der Welt Lampen aus menschlicher Haut. So sind die Amerikaner nicht."

    Vor diesem Hintergrund sind auch die berühmten zwölf Non-Fraternization-Regeln des General Dwight D. Eisenhower zu verstehen. Der Oberste Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa hatte schon beim ersten Einmarsch seiner Truppen in Deutschland, am 22. September 1944, diese scharfen Regeln gegen die "Verbrüderung" mit Deutschen erlassen. Unter Androhung drakonischer Strafen wurde den US-Soldaten beispielsweise verboten, Deutschen die Hand zu geben oder mit ihnen gemeinsam auf der Kirchenbank zu sitzen. Der Schock über die Greueltaten der Nazis saß tief:

    "Die Amerikaner waren ja meistens die ersten, die KZs in Mitteldeutschland erreichten, sprich: Sachsenhausen, oder Weimar, Buchenwald. Und das hat natürlich das Bild der Amerikaner ganz stark beeinflusst. Beispielsweise hat der amerikanische Kommandant von Weimar befohlen, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich das Lager ansehen muss. Oder in Essen wurde der NS-Stadtrat gezwungen, Leichen von ermordeten sowjetischen Zwangsarbeitern mit den Händen auszugraben und umzubetten. Die Amerikaner sind da sehr drastisch vorgegangen"."

    berichtet Volker Koop. Dabei beleuchtet er auch ein wenig bekanntes düsteres Kapitel der frühen amerikanischen Besatzungszeit: Nicht nur die Rote Armee, auch die Amerikaner verübten Plünderungen und Übergriffe auf die Bevölkerung. Koop verweist auf Unterlagen der Militärregierung. Denen zufolge haben im ersten Nachkriegsjahr etwa 1500 deutsche Frauen amerikanische Soldaten wegen Vergewaltigung angezeigt. Die Dunkelziffer an Opfern, so mutmaßt der Autor, lag jedoch viel höher. Der entscheidende Unterschied zwischen den russischen und den amerikanischen Militärbehörden bestand darin, dass letztere solche Vergehen mit Höchststrafen ahndeten. Dies würdigt Koop nur in einer kurzen, aber prägnanten Passage seines Buches:

    ""Bis zum 1. Juli 1945 waren von 160 Verurteilten 29 wegen 'Notzucht' und fünfzehn wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung hingerichtet worden. Die Übrigen erhielten Strafen von durchschnittlich vierzehn Jahren Zwangsarbeit. Wie rigoros die US-Dienststellen gerade mit dieser Tätergruppe umgingen, belegt ein Zahlenvergleich: Von 139 wegen Desertion zum Tode verurteilten amerikanischen Soldaten wurde nur ein einziger tatsächlich exekutiert."

    Kritisch und ausführlicher geht der Autor auf die Beschlagnahmung von Kunstschätzen durch die Amerikaner ein, was die aktuelle Rückgabe- und Entschädigungsdebatte um einige Aspekte ergänzt. Auch für die Entnazifizierung findet Koop keine lobenden Worte, ja, sieht diese auf ganzer Linie als gescheitert an, wobei er den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nur eine Seite seines Buches widmet. Den Marshall-Plan, der seit 1947 gewährten Wirtschaftshilfe Amerikas für Europa, die Westdeutschland einen raschen Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder ermöglichte, interpretiert er als Vehikel strategischer Interessen. Der hungerleidenden deutschen Bevölkerung zu helfen, sei nicht vorrangiges Ziel gewesen, in erster Linie sei es darum gegangen, einen Absatzmarkt für die amerikanische Überproduktion an Wirtschaftsgütern zu schaffen und in einem prosperierenden Europa den Kommunismus einzudämmen. Ohne diesen Plan, spekuliert Koop, hätte der amerikanische Steuerzahler auf unabsehbare Zeit Milliarden Dollar an den einstigen Kriegsgegner zahlen müssen. Was allerdings die berühmten CARE-Pakete betrifft, so attestiert Koop den Absendern durchweg humanitäre Motive.

    Die besondere Wirkung dieser Lebensmittel- und Warenpakete, betont Koop, hing auch damit zusammen, dass durch sie ein persönlicher Kontakt zwischen Amerikanern und Deutschen zustande kam – das heißt, der Empfänger bestätigte dem Spender den Erhalt. Die Luftbrücke vom Juni 1948 bis Mai 1949 zählt für Koop schließlich zu den bestimmendsten Erlebnissen jener Jahre:

    "Diese Zeit hat das Bild der Amerikaner weitaus mehr geprägt als ihr Verhalten in Bayern, Hessen oder Bremen. Die Amerikaner waren letztlich die einzigen, die immer darauf bestanden, in Berlin zu bleiben. Das war das Ausschlaggebende, was die Freundschaft der Deutschen zu den Amerikanern begründete und dauerhaft geprägt hat."

    Und nicht nur dies: Schon wenige Monate nach Kriegsende fiel das strenge Fraternisierungsverbot. Der einfache GI hatte sich daran ohnehin nie gehalten, sondern war, ganz im Gegenteil, von den deutschen "Fräuleins" sehr angetan. Immerhin eine erschreckende Zahl im Buch verdeutlicht das Ausmaß der zügellosen Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen: Bis August 1945 waren 50 Prozent der US-Soldaten in Deutschland von einer Geschlechtskrankheit betroffen. In diesem Kontext beleuchtet Koop auch das Schicksal der rund 94.000 unehelich geborenen Besatzungskinder, darunter Zigtausende so genannte Mischlinge, die im Nachkriegsdeutschland fortwährenden rassistischen Vorurteilen ausgesetzt waren. Das rund 300 Seiten starke Buch endet mit einer knappen Skizze der deutsch-amerikanischen Beziehungen und hält abschließend – in Zeiten scharfer Kritik an Präsident George W. Bush – ein Plädoyer für Deutschland als Makler der transatlantischen Beziehungen. Vorangestellt ist diesem Ausblick ein Kapitel zu General Lucius Clay, der in seiner dreieinhalbjährigen Amtszeit den Grundstein für die deutsch-amerikanische Freundschaft legte. Der Militärgouverneur der amerikanischen Zone kam einst als Feind nach Deutschland und verließ das Land am 12. Mai 1949 mit den Worten:

    "I shall not use the English word Goodbye, but rather try to say to you: Auf Wiedersehen."

    Bereits mit dem Titel des Buches – "Besetzt" - weist Koop auf den Fokus seiner Schilderung der amerikanischen Besatzungszeit hin: Ihm geht es vor allem um die Sicht der Deutschen. Und die haben sich 1945 überwiegend als "Besiegte", nicht als "Befreite" verstanden. Ins Hintertreffen geraten dabei persönliche Dokumente und Zeugnisse der amerikanischen Soldaten, etwa Tagebuchaufzeichnungen oder Briefe an Freunde oder Angehörige zuhause. Sie hätten das Bild von der Besatzung für den Leser vervollständigt.

    Volker Koop: Besetzt. Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland.
    bebra Verlag, Berlin 2006
    306 Seiten
    24,90 Euro