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Konstanz will Schülertourismus eindämmen

Bisher war es für deutsche Eltern im Schweizer Grenzgebiet kein Problem, ihre Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken. Das soll sich jetzt ändern: Konstanz will den Schülertourismus eindämmen. Die Begründung: Kapazitätsprobleme.

Von Thomas Wagner | 22.11.2013
    "Ich möchte Ihnen diese Online-Petition mit der Forderung 'Freie Schulwahl für deutsche Kinder mit Wohnsitz in der Schweiz überreichen."
    Angespannte Stimmung gestern Abend, als Michael Meier-Shergill, Vater einer Tochter und eines Sohnes, während der Sitzung des Konstanzer Gemeinderates eine von 400 Eltern unterzeichnete Petition mit brisantem Inhalt übergibt. Es geht um die Zukunft ihrer Kinder, denen eines gemeinsam ist: ein außergewöhnlicher Schulweg.
    "Wir haben von unserem Haus bis zur Grundschule etwa 2000 Meter. Vom unserem Haus bis zum Gymnasium hat mein Sohn viereinhalb Kilometer."
    Klingt zwar nicht nach viel. Doch wenn sich die Kinder auf den Schulweg begeben, sollten sie vor allem eines nicht vergessen: ihren Personalausweis.
    "Dazwischen ist ein Grenzzaun und natürlich die Zollabfertigungsstelle der Schweiz."
    Des Rätsels Lösung: Michael Meier-Shergill ist mit seiner Familie in die Schweizer Grenzstadt Kreuzlingen gezogen, weil es in der benachbarten deutschen Uni-Stadt Konstanz kaum mehr bezahlbaren Wohnraum gibt. Deshalb müssen seine Kinder Tag für Tag Grenzübergänge passieren. Viele deutsche Familien haben es den Meier-Shergills gleichgetan: Sie leben in der Schweizer Nachbarschaft, schicken ihre Kinder jedoch nach wie vor auf die Schulen im benachbarten Konstanz - und das, wie sie meinen, mit gutem Grund. Michael Meier-Shergill:
    "Ich selbst habe natürlich das deutsche Bildungssystem genossen. Ich sage jetzt mal ganz bewusst: 'genossen'. Mir ist es sehr vertraut."
    Und zwar so vertraut, dass er auch seine beiden Kinder lieber dem deutschen als dem Schweizerischen Schulsystem anvertraut, so wie die meisten Eltern, die in der Schweizer Nachbarschaft der deutschen Stadt Konstanz leben. Der Hauptgrund: Das Schweizerische Schulsystem unterscheidet sich ganz wesentlich von dem in Deutschland. Im Schweizer Kanton Thurgau beispielsweise gehen die Kinder nicht vier Jahre in die Grundschule, sondern sechs Jahre gemeinsam in die sogenannte Primarschule. Während in der Ostschweiz bislang Französisch als erste Fremdsprache unterrichtet wird, lernen die Kinder ein paar Hundert Meter weiter erst einmal Englisch. Und, ganz wichtig: Während in Baden-Württemberg etwa 50 Prozent aller Schüler irgendwann einmal am Gymnasium ihr Abitur ablegen, machen in der Schweiz nur rund 20 Prozent aller Jugendlichen die sogenannte "Matura", die die Hochschulreife bescheinigt - ganz abgesehen davon, dass Kinder, die von der Schweizer Primarschule kommen, nicht so ohne Weiteres an deutschen Gymnasien aufgenommen werden.
    Das alles hat immer mehr deutsche Eltern mit Wohnsitz in der Schweizer Nachbarschaft dazu bewogen, ihre Kinder schon ab der ersten Klasse an den Konstanzer Grundschulen anzumelden.
    "Früher waren das mal 100 oder 150 vor so zehn Jahren. Und jetzt ist das derart angewachsen, dass wir relativ viele, so um die 360 Schüler haben und dadurch die Raumkapazitäten in unseren Schulen gesprengt werden."
    Und genau das, weiß der Konstanzer Schuldezernent Andreas Osner, ist das Hauptproblem, den der schweizerische-deutsche Schülertourismus nach sich zieht: Denn die Lehrer- und Schulraumplanung richtet sich an der Zahl derjenigen Familien aus, die in einer Stadt wie Konstanz auch tatsächlich gemeldet sind. Die Kinder mit Wohnsitz in der Schweiz haben die Schulplaner nicht auf dem Schirm. Folge: drohende Kapazitätsengpässe, zu wenig Lehrer - so die Argumentation der Stadt Konstanz. Die entschied sich deshalb dazu, den deutsch-schweizerischen Schülertourismus einzudämmen.
    Ursprünglich hatte der Schulausschuss der Stadt sogar einen Aufnahmestopp für deutsche Kinder aus der Schweizer Nachbarschaft an Konstanzer Grundschulen beschlossen. Das allerdings rief zahlreiche empörte Eltern auf den Plan. Zu ihnen gehört die Lehrerin Sonja Soppe. Sie wohnt in der Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen, unterrichtet aber an einem Konstanzer Gymnasium. Als als sie erfuhr, dass ihre Kinder zukünftig nicht mehr die Konstanzer Schulen besuchen sollen, fiel sie aus allen Wolken:
    "Wenn meine Kinder im schweizerischen Kreuzlingen in die Schule gehen müssten, hätten wir im Sommer nur noch eine Ferienwoche gemeinsam. Und da ich Lehrerin bin, könnte ich kaum mehr mit meinen Kindern richtig in Urlaub fahren. Und auch andere Ferien wie die Herbstferien liegen komplett zu anderen Zeitpunkten. Also es wäre für uns als Familie sehr hart."
    Nicht zuletzt aus solchen Gründen rückte der Konstanzer Gemeinderat gestern Abend vom dem ursprünglichen Beschluss des Schulausschusses ab. Schüler mit Wohnsitz in der Schweiz werden demnach nicht grundsätzlich von den Konstanzer Schulen ausgeschlossen. Sie dürfen dann aufgenommen werden, wenn in den ohnehin bestehenden Klassen noch Plätze frei sind. Allerdings: Zusätzliche Klassen sollen wegen Anmeldungen aus der Schweiz aber nicht mehr eingerichtet werden; auch zusätzliche Raumkapazitäten sollen nicht mehr geschaffen werden. Das bedeutet aber auch: Für Kinder aus der Schweiz wird es zukünftig erheblich schwerer werden, einen Platz an Konstanzer Schulen zu bekommen - und das stößt nicht nur bei den Eltern auf Unverständnis.
    "Es war für mich erst einmal ein großes Erstaunen, dass das überhaupt erst ein Thema geworden ist hier in Konstanz",
    sagt Peter Beckmann, Schulleiter des Ellenrieder-Gymnasiums Konstanz. Er hat bereits an Schulen in Sao Paulo und Stockholm unterrichtet. Aus den Erfahrungen, die er dort gesammelt hat, ist in ihm die Überzeugung gereift: Gerade wenn es um Schulen und um Schulpolitik geht, dürften nationale Grenzen, auch die zwischen Deutschland und der Schweiz, keine Rolle mehr spielen. Schließlich sei es eher Bereicherung denn Last, wenn Kinder von hüben und drüben einer Grenze zum gemeinsamen Unterricht zusammenkommen.
    "Es sollte gar keine Grenzen gehen. Die Ausbildung und der gemeinsame Weg für die Schülerinnen und Schüler ist natürlich durch die unterschiedlichen Lebenswege, die sie haben, und da gehört auch der unterschiedliche Wohnort dazu, eine Bereicherung für die schulische Arbeit."