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Claudia Rusch: Meine Freie Deutsche Jugend

Sie interessieren sich für zeitgeschichtliche Literatur und wissen noch nicht, was Sie im Urlaub lesen wollen? Wir haben eine Empfehlung. Der dröge Titel "Meine freie deutsche Jugend" schreckt zwar ab, aber Claudia Ruschs biographische Erzählungen gehören zu dem Amüsantesten, was der Buchmarkt zur Zeit zu bieten hat.

Manfred Jäger | 07.07.2003
    Aus seinem Leben kann jeder und jede erzählen, und leider glauben immer mehr Mitmenschen, was sie durchlitten, bewältigt und gestaltet haben, müsse uns allen schriftlich mitgeteilt werden. Prominente erzielen mit Hilfe professioneller Schreiber kurzfristige kommerzielle Erfolge, und die Manuskripte der unbekannten, die Selbsterlebtes von sich geben, landen oft in Kleinverlagen, die sich die Publikationen teuer bezahlen lassen. In der Flut autobiographisch beglaubigter Bekenntnisbücher, seien sie nun ein kühl kalkuliertes Geschäft oder ein Vermächtnis für Enkel und Urenkel, kann dann ein Text leicht untergehen, der unerwartet souverän, originell und sprachgewandt daherkommt. Deswegen gestehe ich gleich zu Beginn ein, dass meine Rezension von Claudias Ruschs Prosadebüt unumwunden auf eine Lektüreempfehlung hinausläuft. Rasch verfliegt beim Lesen die Skepsis, die der Titel "Meine Freie Deutsche Jugend" wachruft. Denn es gibt wirklich zu viele moralisierende Bücher der Anklage oder der Rechtfertigung, in denen ehemalige DDR-Bürger mit sich und ihrem Staat ins Reine kommen wollten. Sogar die erst nach 1990 erwachsen Gewordenen folgten dem Trend, präsentierten ihre Verlustrechnung und stilisierten sich als "Zonenkinder", die verwundert dementierten, sie hätten die Gewinne der deutschen Vereinigung in ihrer Bilanz verschweigen wollen.

    Claudia Rusch erzählt einfach, sie diskutiert nicht, sie streitet nicht und sie entwertet ihre Erlebnisse und Erfahrungen nicht dadurch, dass sie aus grotesken Begebenheiten Fallbeispiele für übergeordnete allgemeine "Einschätzungen" für politisch korrekte Bewertungen herausfiltert. Die Autorin, heute Anfang dreißig, war in der DDR ein "Bürgerrechtlerkind", aber so richtig passt die Zuordnung auch wieder nicht. Jede Schublade, in die man sie steckt, klemmt. Denn ihr leiblicher Vater war ein strammer, linientreuer Marineoffizier der Nationalen Volksarmee. Die Mutter, Nachfahrin von Kapitänen und Kapitänsfrauen, hatte ihn auserwählt. Als die Ehe scheiterte, kam ein langhaariger Regimegegner als neuer Vater ins Haus und den Mochte Claudia lieber. Die Eltern ließen das Mädchen an den abgeschliffenen staatlichen Ritualen teilnehmen. Im April 1985 stand für Claudia die Jugendweihe an.

    Die Jugendweihe war das abschließende und am heißesten erwartete Ereignis einer DDR Kindheit. Sie bedeutete die feierliche Aufnahme der Vierzehnjährigen in den Kreis der Erwachsenen. Zeitgleich bekam man seinen Personalausweis, trat in die FDJ ein und wurde fürderhin von den Lehrern im Unterricht gesiezt. Ein bedeutsamer Moment also. Da die Deutschen wissen, wie man Feste feiert, wurden die jungen Leute hierfür in Sonntagskleider gesteckt, bekamen teuere Geschenke und durften sich später unter der Aufsicht von Mutti und Vati zum ersten Mal richtig betrinken. Bis zur bitteren Neige: Jugendweihegeschichten endeten meistens auf dem Klo. In dieser Hinsicht hatten es Ostkinder auch nicht leichter als andere: Das Ganze war eine Kreuzung aus Konfirmation und Debütantinnenball.

    Mit dieser Mixtur aus knapper Information und ironischem Kommentar beginnt die Miniatur über die Jugendweihe, die zugleich ernst und blöde, komisch und wichtig war. Claudia wollte auch erwachsen werden und das feierlich bestätigt bekommen. Sie wollte sein wie die anderen und hatte gleichwohl schon angefangen, ihre Situation als Außenseiterkind "ein bisschen cool zu finden". So belog sie Honecker mit dem Treueschwur auf die DDR - das war die übliche alltägliche Schizophrenie. Sie trug ein grünes Corkleid, ein Westgeschenk, in dem sie aussah wie eine sitzen gebliebene Gouvernante. Der modische Exzess wurde noch dadurch überboten, dass zur Überraschung aller ihr Vater erschien, in weißer Paradeuniform mit goldenen Tresse. die Offizierstochter auf Abwegen vermeldet, indem sie Erinnerungsspuren und Dokumente aus Fotoalben montiert, wie sie die Prozedur durchstand:

    Während der Zeremonie saß ich zwischen meinen beiden Vätern. Uniform links, Jeans rechts. Dem einen sah ich ähnlich, dem anderen war ich ähnlich. Einer hatte mich gezeugt, einer hatte mich geformt. Der glattrasierte Krieger und der langhaarige Verweigerer. Die ganze Bandbreite der DDR in diesen beiden Männern. Meinen Vätern.

    Man wurde nicht nur in den Staat hineingeboren, sondern zugleich in eine bestimmte familiäre Konstruktion. Oft sind Funktionärskinder "aus der Art geschlagen" und haben Formen der kulturellen oder auch politischen Opposition gesucht, weil sie die Verstärkung der Indoktrination durchs autoritäre Elternhaus nicht aushielten. Was aber taten Dissidentenkinder, wenn sie in das Alter kamen, in dem man gewöhnlich gegen das eigenen Zuhause aufbegehrte? Wie hielt die Heranwachsende es aus, dass von entgegengesetzten Seiten auf sie eingewirkt wurde, dass sie so unter doppeltem Druck stand?

    Ich habe die Entscheidung meiner Eltern, in der Opposition zu leben, nicht mitgetroffen. Ich war ihr ausgeliefert. Heute bin ich ihnen dankbar. Sie haben mich damit privilegiert. Ich weiß genau, in welchem Land ich großgeworden bin. Niemand kann mir unterstellen, ich wüsste nicht, wovon ich rede. Das erleichtert das Miteinander seit der Wende erheblich. Als Mädchen war ich dagegen zerrissen zwischen dem Wunsch nach Unauffälligkeit und der Würde einer Eingeweihten. Ich gehörte zu einem exklusiven Club, aber manchmal wäre ich gerne angepasster DDR-Durchschnitt gewesen. Mit Eltern in der Partei, FDGB-Urlaub in Kühlungsborn und einer Dreizimmerwohnung in Marzahn. Ohne Geheimnisse. Einfach in der Menge verschwinden.

    Davon konnte keine Rede sein, als sie zum Kreis Robert Havemanns gehörten, ein paar Häuser weiter als er in Grünheide lebten und ihre Wohnung von der Stasi gleich mit unter Dauerbeobachtung genommen wurde. Als die Oma eines Winterabends zu Besuch kam, wollte Erstklässlerin Claudia sie unbedingt allein vom Bus abholen. Die Angst während des Fußmarsches durch den Wald bekämpfte sie mit dem lautstarken Absingen eines ellenlangen Soldatenliedes, dass sie bei den Thälmann-Pionieren gelernt hatte. Heimlich schlich ihr die besorgte Mutter hinterher und beiden folgte - auch in gebührendem, Abstand - die Stasi im Lada, offenbar völlig verwirrt von den Machenschaften des Feindes. Als Oma ausgestiegen war, rannte die Mutter schnell wieder allein nach Hause und der Verfolgungswagen blieb im Matsch stecken.

    Auch die Sprösslinge von Bürgerrechtlern konnten ehrgeizig sein, und liebevolle Eltern verlangten nicht, die schulische Anpassung zu verweigern. Bei den Pionieren war Claudia freiwillig, in die FDJ trieb sie der Opportunismus, der Drang zum Abitur, das ihr am Ende nur die Direktorin ihrer Schule ermöglichte, eine Genossin mit Einfluss und Eigensinn, die das System und die nötigen Tricks kannte.

    Ich trat in die Deutsch-Sowjetische Freundschaft ein und bevor die heiße Bewerbungsphase begann, gab ich mir einen Ruck und übernahm den Posten der FDJ-Sekretärin meiner Klasse. Wenn schon ans System verkauft, dann richtig. Das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr.

    Die Autorin kleistert die Widersprüche nicht zu, sie zieht nicht falsche Trennlinien zwischen vermeintlich heilem Alltag und der schnöden Politik. Ihr lebhafter feuilletonistischer Ton erklärt sich auch daraus, dass sie sich für ein Glückskind halten darf, dem nichts Schlimmes zustieß. Aber sie blendet das Bedrohliche nicht aus. Ein Großvater, der Vater der Mutter, Landrat, Genosse, "Vorzeigekader" starb 1967 mit 42 Jahren, in der Stasi-Haft. Nach mühsamer Aktensuche erfährt sie, dass der Enttäuschte vier anonyme Briefe über die Zustände an den RIAS geschrieben hatte. In der Begegnung mit der mürrischen, unkooperativen, feindlich gesinnten Sachbearbeiterin im Archiv eines Provinznestes erlebt die Enkelin des Opfers - 15 Jahre nach Umbruch - den noch immer nicht verflogenen Mief der alten DDR.

    Welch ein Glück, dass Claudias Schulabschluss mit dem Ende des Staates zusammenfiel! Jetzt erlebt sie ihre frankophile Neidung voll aus und erzählt von den komischen Situationen, die in Paris oder an der Cote d´Azur so nur einer Ex-DDR-Bürgerin zustoßen können. Im Nachwort analysiert der Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig die Texte seiner jungen Kollegin. Auch wenn Hilbigs grotesker Humor oft übersehen wird, gibt es keine Ähnlichkeit mit seiner düsteren Weltsicht und seinem von langen Satzperioden geprägten Stil. Ihn begeistert die Durchsichtigkeit und Selbstverständlichkeit ihrer Schreibweise, weil alles fehlt, was ihn an einst hochgelobte DDR-Autoren so störte: das Verdeckte, Vieldeutige, das hochgelobte Sich Einrichten zwischen den Zeilen, der wie er meint - bequeme Schutz im sprachlich Ungefähren.

    Hilbigs Empfehlung gilt einem freien geistreichen, wahrhaftigen und unterhaltsamen Buch voller pointierten Miniaturen vor ernstem Hintergrund, das uns durch Erzählen aufklärt, weil jede belehrende Absicht fehlt.

    Claudia Rusch, Meine Freie Deutsche Jugend, Fischer Verlag, Frankfurt, 157 Seiten, 14 Euro 90.