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Das Festival "Blurred Edges"
Solidarität und Skurrilität zum Dumpingpreis?

Seit elf Jahren trotzt die freie Musikszene in Hamburg den Subventionskürzungen mit einem Festival, das eine einzigartige Vernetztheit zwischen den verschiedenen Musik- und Kunstsparten geschaffen hat. Mehr Kreativität für weniger Geld. Sollte dies ein Patentrezept sein?

Von Barbara Eckle | 21.06.2016
    Blick auf Hamburg und die Speicherstadt
    Festival für Hamburgs freie Musikszene: Blurred Edges (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Einst war die Hamburger Marktstraße eine verrufene Ecke; heute ist sie Shopping-Paradies für den individualistischen Boutiquen-Liebhaber, der sich gern zwischen den Konsumstrapazen mit einem Stück makrobiotischem Kuchen stärkt - oder aber mit einer halben Stunde Improvisationsmusik. Es ist Samstagnachmittag um drei. In der Galerie Farbwerke, Marktstraße 6, spielt das Trio Zwei Herzöge und ein Hopp auf. Altklarinette, Baßklarinette und Percussion treffen aufeinander, dialogisieren, konterkarieren – man erkennt sofort den Sound der alten Hasen der Improvisation, wie er in den 80er-Jahren Konjunktur hatte. Er gehört zum Festival blurred edges genauso wie die komponierte Musik, die instrumentale und die elektronische, genauso wie die vielen interdisziplinären Projekte mit Kunst, Film oder Video und die diversen Klangexperimente und Kuriositäten wie Musik im mobilen Picnic-Format, Pflanzenmusik im Garten und dergleichen.
    Festival als Protest
    Genregrenzen werden dabei automatisch und ständig passiert. Daher der Titel des Festivals: blurred edges – verschwommene Ränder. Eine kuratorische Handschrift ist in dem disparaten, teilweise obskuren Programm nicht zu erkennen. Dafür gibt es einen handfesten Grund: einen Kurator gibt es nicht. Dieses Konzept klingt sehr cool, ist aber aus der Not heraus geboren, dass der freien Szene in Hamburg vor zwölf Jahren die Fördergelder auf einen winzigen Bruchteil gekürzt wurden. Darauf gründeten Vertreter dieser Szene den Verband für aktuelle Musik Hamburg, der dann das Festival quasi als Protest ins Leben rief. Der Komponist Michael Maierhof – nicht Kurator, aber Mitglied einer fünfköpfigen Organisatorengruppe, die das Festival koordiniert - erklärt, an welchem Modell man sich dabei orientiert hat:
    "Wir nennen das Produzentenfestival, eigentlich ein bisschen angelegt an die Produzentengaleriebewegung, ich glaube so Achtziger, wo sich Künstler zusammengetan haben, um Galerien zu gründen, um unabhängig von diesem kommerziellen Galeriebetrieb zu sein. Und eigentlich war das Konzept uns am Anfang noch gar nicht so klar, weil es war eher eine politische Aktion, um die Subkultur in Hamburg ein bisschen nach außen zu bringen. Und nach und nach hat sich das irgendwie so als Bedürfnis für die Stadt, für die Musikszene etabliert, da fehlt was, das müssen wir machen, die Leute springen an, die wollen dabei sein, und dann nach und nach ist uns klar geworden: das ist eigentlich eine Art Festivaltyp, den es so gar nicht oft gibt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob es den überhaupt sonst nochmal gibt."
    Alles außer Kommerz
    Aus der Not ist nicht nur eine Tugend geworden, sondern in ihrem Rahmen auch eine Erfolgsgeschichte: blurred edges, in diesem Jahr zum elften Mal veranstaltet, erfreut sich wachsender Beliebtheit, besonders auch bei ganz jungem Publikum, immer mehr auch aus der Kunst- und Undergroundszene. Dadurch, dass die Veranstalter der verschiedenen Konzertlocations selber ihre neuesten und liebsten Entdeckungen präsentieren können, bildet sich ein stets aktuelles kaleidoskopisches Bild, das die wahre Diversität einer solchen Szene mit all ihren qualitativen Licht- und Schattenseiten nicht besser wiedergeben könnte. Und darin hat bis auf Kommerz tatsächlich alles Platz, von Lachenmann über Elektropop bis hin zu skurrilen Einzelgängen, wie etwa vom Briten Stephen Altoft mit seiner 19tel-Trompete, die er so umgebaut hat, dass sie die Oktave in 19 gleiche Teile unterteilen kann und somit zeitgenössischen Komponisten das Tor zu einer mikrotonalen Trompetenmusik geöffnet hat.
    Musik 2: Todd Harrop, Man in blue suit thanks Firefighters
    Am vergangenen Sonntagabend ging das Festival mit einer beliebten Randerscheinung der Neuen Musik zu Ende: Toy Piano Mania heißt das Programm der Veranstalterin und Pianistin Jennifer Hymer, das sechs Spielzeugklaviere in einer Bildergalerie im Viertel St. Georg auf die Bühne brachte. Neben Bearbeitungen von Beatles und Bowie-Songs zeigten vor allem Transkriptionen javanischer Gamelanmusik von Steven Tanoto, wie weit das Toy Piano vom Klavier entfernt ist. Zum Schluss durften beide miteinander einen Walzer tanzen.
    Musik 3: David J. Lang, The Imaginary Waltz
    Weniger Geld, mehr Kreativität?
    Sollte man nun aus dem Fall blurred edges das zynische Fazit ziehen: weniger Geld – mehr Kreativität und Originalität, mehr Austausch innerhalb der freien Szene, mehr Solidarität, mehr Ausstrahlung? Die Rechnung der Kulturbehörde scheint besser aufgegangen zu sein, als sie wohl selbst je vermutet hat. Aber selbst diese reagiert nun – nach elf Jahren.
    "Die Kulturbehörde findet es natürlich auch nicht so schlecht, so ein Festival für so eine Stadt, also die schmückt sich jetzt mittlerweile auch damit, hat jetzt aber auch angekündigt, es nächstes Jahr deutlich besser zu fördern. Also das ist jetzt ganz klar politisch: Nächstes Jahr Januar wird die Elbphilharmonie eröffnet und da fließt so viel Geld rein, dass die Kultursenatorin gesagt hat: Wir müssen auch der freien Szene ein bisschen mehr Geld geben, sonst ist das Ungleichgewicht zu deutlich."
    Erfolgsmeldungen dieser Art sind selten geworden. Einmal gekürzte Gelder kommen meist nicht wieder. In Hamburg nun doch – und seien die Gründe auch taktischer Natur. Die Frage nun ist: Wo soll die Reise für blurred edges mit größerem Budget zukünftig hingehen? Michael Maierhof:
    "Selbst wenn es verdoppelt wird, wird es nie möglich sein - und wollen wir eigentlich auch nicht –, so einen high-price Ensemble- oder Konzertbetrieb zu integrieren. Dafür ist die Elbphilharmonie mit ihren Festivals da, das können die machen. Aber das ist nicht unser Ding. Also es wär schön, wenn da ein bisschen mehr Gage an die Musiker fließen würde, dass man da auch ein bisschen mehr eine Mindestlohngrenze einhält."
    Wer eine abenteuerliche Gegenwelt zur Elbphilharmonie sucht und gelegentlich auch mal eine Niederlage einstecken kann, ist bei blurred edges auf jeden Fall richtig. Wo sonst bekommt man inspirierte Improvisationsmusik unter der Plastikplane in einem verregneten und vermüllten Gärtchen am Stadtrand serviert?